Sitzgelegenheiten gibt es auf dem Gelände des Welterbes Zollverein genug, © Jule Wagner

Ein Pott voller Geschichten


Entdeckungen im Ruhrgebiet

Ich rupfte unsere Rucksäcke aus der Ecke unter der Garderobe, zwei große und einen kleinen. „Mama, machen wir einen Ausflug?“, fragte mich unsere Tochter freudig gespannt, wie sie es immer tut, wenn sich ein Rucksack zum wilden Befüllen bereit macht. Ich musste schon schmunzeln, ehe sie den Satz zu Ende gesprochen hatte: „Bente, morgen fahren wir in den Urlaub.“

Dem Alltag entfliehen und ein paar Tage raus. Ja, bitte! Aber Urlaub und mit Rucksäcken und keine sperrigen Koffer? Der Umstand war mir in Verbindung mit einer Familienreise inklusive Kleinkind bisher nicht untergekommen, gefiel mir aber ausgesprochen ausgezeichnet. Denn ganz ehrlich: Ich freue mich wirklich sehr für all jene Menschen, bei denen die Erholung schon mit der Vorfreude auf das Packen beginnt. Ja, ich könnte hier auch von einer Form des Neides sprechen, denn ich gehöre zu der Sorte Kofferpackerinnen, die sich nie festlegen können, alles mitnehmen wollen und das Koffervolumen aufs Maximale ausreizen. Der Familienzuwachs hat es da jetzt auch nicht unbedingt besser gemacht, wie man sich vielleicht vorstellen kann. Und natürlich fehlt am Ende doch noch irgendein wichtiges Teil. Klassiker.

Ein Zwischenstopp am Niederfeldsee bietet sich auf der Radroute Grubenfahrt an , © Jule Wagner

Die Kombination aus Größe des Rucksacks, Länge der Reise und Entfernung des Zielortes nahm mir jedoch schließlich zahlreiche Entscheidungen rund um die Packliste ab. Ich putzte die Scheiben meines inneren Stresstoleranzfensters blitzeblank und schenkte mir somit doch eine dicke Portion Vorfreude beim Ausblick auf drei richtig spannende Tage. Wenn Bente mit ihren drei Jahren das Wort Urlaub hört, freut sie sich auf Berge oder denkt an das Meer. Ich habe dabei auch noch eine längere Fahrt in unserer voll beladenen Blechschüssel im Hinterkopf, die in der Regel dafür sorgt, völlig urlaubsüberreif und leicht gegoren am Wunschort der Erholung anzukommen. Um selbige auf der Heimreise auch gleich wieder verpuffen zu lassen. Doch diesmal sollte alles anders sein, denn mit einer Anzahl von Pedalumdrehungen, die in gerade einmal 40 Minuten passten, kamen wir mit unseren Lieblings-Vehikeln am Urlaubsort an.

Wo sich Kumpel früher ihre hart erarbeitete und wohlverdiente Lohntüte abholen durften, ist der Kohlestaub in der „Alten Lohnhalle“ natürlich längst verflogen. Geblieben ist dafür der ehrliche Charme von Industriekultur, der das Ruhrgebiet so besonders und einzigartig macht. Heute werden hier die Hotelgäste mit herzlichem Service, lokalen Leckereien aus der „Revierküche“ und – nach aufregenden Streifzügen durch den Pott – mit erholsamer Nachtruhe belohnt. Im offiziellen Bett&Bike Hotel finden übrigens auch Fahrräder jeder Form und Größe einen sicheren Stellplatz für die Nacht.

Drei Tage Urlaub im Ruhrpott, also in der Heimat. Nicht mal eine Stunde von der eigenen Haustür entfernt. Keine Koffer, keine lange Anreise. Keine schneebedeckten Gipfel, kein  salziges Nass. Geht das? „Ist der Begriff Urlaub da nicht vielleicht eine Nummer zu groß?“, fragte ich mich beiläufig. Gespannt machten wir uns, natürlich per Rad, auf die Suche nach einer Antwort auf die Frage, was Urlaubszeit eigentlich genau ausmacht. Kilometer für Kilometer erschlossen wir zwei geplante Strecken aus dem Angebot des radrevier.ruhr und waren dabei regelmäßig begeistert von dem industriekulturellen Programm, welches immer wieder zum Staunen, Verweilen und Erleben eingeladen hatte. Aber der Reihe nach!

Es war Freitagmorgen, als wir am Hotel ankamen. Während meine Frau Sabine und ich in der Schönheit historischer Architektur abtauchten, vergnügte sich Bente mit ihrem Echo in der großzügigen Eingangshalle der „Alten Lohnhalle“, die Lobby, Restaurant und Rezeption beherbergte. Heiteres Kinder-Quietschen erschallte dann auch beim Öffnen unserer Zimmertür, wo uns als erstes ein knallroter Hocker in Dinoform begrüßte. Wir nutzten Bentes kleinen Ausritt in die Steinzeit und trafen auf eine fantastische Mischung aus Tradition, Moderne und Komfort, im üppigen Rest unseres Zimmers mit Zechenturmblick.

Der Industriekomplex Zollverein gilt als eines der imposantesten Industriedenkmäler der Welt, © Jule Wagner

Kurz bevor die Sonne ihren höchsten Punkt erreichte, hatten unsere Füße schon wieder auf den Pedalen unserer Velos gestanden. Unterwegs waren wir an diesem Wochenende übrigens mit einem Cargobike, auch besser bekannt als Lastenfahrrad. In der Transportbox hatte es sich unsere Tochter wohnlich eingerichtet – da spreche ich natürlich ungern von einer „Last“. Spielzeug, Wechselklamotten, Verpflegung und die Box mit Kindermucke fanden auch einen Platz. Das zweite Rad war ein Gravelbike – das sportliche Reiserad für maximale Untergrundflexibilität.

Unsere erste Route hörte auf den Namen „Probierstück“. Mein Unterbewusstsein war gleich getriggert und schickte mir Bilder von saftigen Kuchenstücken vors geistige Auge. Lecker würde es also auch werden – jedenfalls mindestens in meiner Vorstellung. Aber ich bin bei dem Thema von Natur aus optimistisch: „Wo 'ne lecker Radtour is, is auch 'n lecker Päusken“. Mit knapp 30 Kilometern hatte sie eine perfekte Streckenlänge für den Anreisetag und somit blieb auch noch genügend Zeit für Aktivitäten am Streckenrand. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir allerdings auch noch nicht, dass das Angebot an kleinen und großen Sehenswürdigkeiten ungefähr so umfangreich sein würde, wie die Auswahl bei einer gemischten Tüte Klümpkes vonner Bude.

Die Zeche Zollverein, UNESCO-Welterbe, ist wohl die Kulturkönigin in der Zechenlandschaft und Ausgangspunkt für die Touren. Ehrfürchtig gegenüber ihrer Größe und Geschichte beließen wir es bei einer ausgiebigen Runde auf der orange-farbenen Riesenrolltreppe mit Bente an der alten Kohlenwäsche und begaben uns alsbald auf die Rundreise um Gelsenkirchen.

Die Himmelstreppe von Herman Prigann ist auf der Halde Rheinelbe ein Anziehungspunkt, © Jule Wagner

Nach nicht mal drei Kilometern wurden wir schon mit dem ersten 360°-Panorama-Blick in „Full-Aussicht“ belohnt. „Rheinelbe“ heißt der Hügel aus dem Abraum vergangener Tage. Sabine staunte nicht schlecht, als sie sich nach der verhältnismäßig kurzen Auffahrt zum Haldengipfel neben dem Steinkunstwerk namens „Himmelstreppe“ wiederfand. Sie blickte in die klare und sonnige Ferne, deren Ausblick Ihre Erwartungen übertraf. Ein perfekter Einstieg in die Monte-Schlakko-Parade der Ruhrregion. Mein Zeigefinger wanderte am lang gestreckten Arm über den Horizont und pausierte auf der einen oder anderen Landmarke – denn als Ruhrpottgöre bin ich meiner aus Hessen stammenden Frau ein paar Kenntnissen voraus. Und obwohl ich hier aufgewachsen und sehr gerne geblieben bin, stellte ich einmal mehr fest, dass es für mich auch immer wieder Neuentdeckungen in der Kohlen-Kulisse gibt.

Bente interessierte sich zwischenzeitlich überwiegend für die architektonischen Elemente in unmittelbarer Nähe. Ob sie dabei auf einem schneebedeckten Berg oder einem Hügel im Schlackemantel stand, war ihr natürlich völlig egal. Sie folgte ihrem Drang nach Bewegung und verbalisierte auch rasch ihren aufkommenden Hunger. Ein kleines Picknick mit großer Aussicht begeisterte uns dann alle gleichermaßen. 360 Grad Zufriedenheit.

Mit dem Schwung der Abfahrt passierten wir den Skulpturenwald am Fuße der Halde und düsten über die „Kray-Wanner-Bahn“ bis an ihr Ende. Hier trafen wir auf das „Erzbahn-Trio“, bestehend aus Bude, Brücke und Trasse. Und da Pausieren eine unserer Kernkompetenzen ist, konnten wir uns die Limo an der kultigen Erzbahnbude natürlich nicht verkneifen. Bente wählte für sich, in ihrer kindlichen Professionalität, die gefrorene Variante am Stiel.

  • Sabine Wagner spielt mit Ihrer Tochter im Zimmer des Hotels Alte Lohnhalle, © Jule Wagner
    Das Erzbahntrio besteht aus Bude, Brücke und Trasse, © Jule Wagner
    Auch ein Skulpturenwald befindet sich auf der Halde Rheinelbe, © Jule Wagner
  • Jule Wagner steht mit ihrer Familie vor der Alten Lohnhalle auf dem Welterbe Zollverein, © Jule Wagner
Familie Wagner kundschaftet die Zoom Erlebniswelt aus, © Jule Wagner

Maximal gestärkt folgten wir also der Trasse auf Flüsterasphalt mit sanftem Gefälle. Wir überquerten spektakuläre Brückenbauten bei angenehmem Tempo nahezu mühelos und ließen uns nur von wilden Welten stoppen: Alaska, Asien und Afrika. Für den Abstecher auf andere Kontinente verließen wir unsere Fahrräder und begaben uns auf eine Safari durch die „ZOOM Erlebniswelt“. Nach einem Marsch durch die Savanne und entlang großzügig und weitläufig gestalteter Gehege konnten die funkelnden Augen von Bente dann auch nur noch durch den Kinderspielplatz am Eingang offengehalten werden. Gehorsam folgten wir unserer kleinen Chefin in den Sandkasten. Ist die Kleine entspannt, sind wir es auch und wie wunderbar ist es doch, einem zufriedenen Kind beim friedlichen Nickerchen zuzuschauen, welches sich im Nu anschließen sollte. Auf leisen Sohlen verließen wir den Zoo und betteten Bente in ihr mobiles Schlafgemach.

Die „Grimberger Sichel“ eröffnete mit ihrer imposanten Erscheinung die zweite Hälfte unserer Rundtour, die uns am Kanaluferweg zurückbringen sollte. Der Anblick der halbkreisförmigen Bogenbrücke in Gelsenkirchen zwang uns zu ein paar Extrametern und spornte meine kribbelnden Radelhaxen an. Beschleunigung. Es folgte eine 150 Meter lange Achterbahnparty auf der hängenden Stahlkonstruktion, an dessen Ende ich mein inneres Kind erfolgreich wieder einfangen konnte.

Im umgebauten „Kohlehafen Bismarck“ fühlten wir uns kurzzeitig wie die flanierende Prominenz an der Ruhrpott-Riviera. „An einen Fabrikhafen erinnert das moderne Stadtquartier mit Jachtanlegern jedenfalls nicht mehr“, bestaunte ich die sommerliche Marina.

Bevor es für die letzten fünf Kilometer zurück auf die Bahntrasse ging, passierten wir den Nordsternpark und waren aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit etwas erleichtert, dass Bente immer noch von wilden Tieren träumte. Ihr eingebauter Spielplatzdetektor wäre vor Einbruch der Dunkelheit wohl nicht mehr zum Stillstand gekommen, denn das riesige Betriebsgelände der ehemaligen Zeche Nordstern glich schon im Vorbeifahren einer imposanten Abenteuerwelt für Klein und Groß. Uns gefiel die Vorstellung von einem Abschied auf Zeit und so beschlossen wir, schon bald wiederzukommen, um Bentes Detektornadel zum Glühen zu bringen.

Nach acht kurzweiligen Stunden bogen wir wieder zum Hotel auf das Gelände der Zeche Bonifacius ein. Glücklich erschlagen von so vielen Ein- und Ausblicken in unsere Ruhrgebietsgeschichte ließen wir den Tag im Außenbereich des Hotelrestaurants „Über Tage“ ausklingen, während Bente ihre letzten Kräfte noch erfolgreich an Rutsche und Klettergerüst verteilte. Danach war dann auch für uns nur noch eins: Schicht im Schacht.

Die Bramme des Künstlers Richard Serra stellt die Landmarke auf der Schurenbachhalde dar, © Jule Wagner

Der 2. Tag begann um 7 Uhr mit den Worten „Ich bin jetzt wach“. Die Energie, die unsere Tochter schon mit dem ersten Augenaufschlag versprühte, tankten wir beim Frühstück mit frischem Obst, duftenden Brötchen und natürlich ’nem Pott Kaffee. Gleichzeitig blickten wir auf unsere heutige Revierroute „Grubenfahrt“, die uns diesmal mit fast doppelter Länge in die andere Himmelsrichtung führen sollte. Größeres Ziel und gleichzeitiger Wendepunkt der Ausfahrt war der Gasometer in Oberhausen mit dem Besuch der aktuellen Ausstellung „Das zerbrechliche Paradies“.

Bewaffnet mit ein paar Käsekniften aus der Hotelküche verschwanden wir auf unseren Rädern im noch sehr verschlafenen Trassennetz. Fernab vom Straßenverkehr führte es uns zunächst in Richtung Norden. Die „Schurenbachhalde“ war das erste Highlight auf unserem Track und ich freute mich sehr darüber, meiner Familie die dicke Bramme vorstellen zu dürfen, die als Landmarke im Scheitel der Halde steckt. Die Atmosphäre dieser meist wenig besuchten Halde hat es mir persönlich ganz besonders angetan. Und auch wenn die Erdanziehungskraft beim Erklimmen der Halde ziemlich gut funktionierte, fühlte ich mich etwas schwerelos beim Befahren der rauen Mondlandschaft auf der Kuppe. Von hier aus zeigte ich Sabine und Bente unsere nächsten Ziele, denn auch an diesem Tag war die Sicht scharf bis zur Erdkrümmung.

Der Tetraeder in Bottrop ist über mehrere Stufen begehbar, © Jule Wagner

Nach der Überquerung des Rhein-Herne-Kanals bahnten wir uns den Weg durch eine der typischen Zechensiedlungen und fanden uns schließlich in Bottrop wieder. Die kleinen Häuschen erinnern eher an verträumte Märchen als an Schutt und Asche einer kohleverstaubten Arbeiterregion. Wir nahmen Anlauf und bezwangen die „Halde Beckstraße“, besser bekannt als „Tetraeder-Halde“. Sie zählt mit ihren 73 Metern zu den höchsten im Kreise der umliegenden Nachbargipfel und setzt mit ihrem 60 Meter emporragenden Klettergerüst noch eins drauf. Bente rastete aus und bat zum Tanz auf dem Tetraeder.

Zurück auf dem Haldentop mümmelten wir unser „lecker Bütterken“ und bewunderten dabei eine gigantische, knallweiße Löschwolke auf ihrem Weg in den Himmel. In Bottrop findet sich noch eine der wenigen betriebenen Kokereien im Land, wie wir am Folgetag noch lernen sollten. Am Horizont begleitete uns immer wieder der Gasometer in schnell wachsender Erscheinung. Wir näherten uns Oberhausen mit einigen Spielplatzabstechern und sicherten uns damit Bentes gute Laune. Es fiel uns nicht schwer, dafür eine Vielzahl von Kunstwerken am Wegesrand nur im Vorbeifahren wahrzunehmen. Darunter zum Beispiel der tanzende Strommast namens „Zauberlehrling“, den ich bis dato nur von Fotos kannte. Die Wirklichkeit war jedoch um einiges eindrucksvoller. Die vielen Tonnen von verbautem Stahl in den gesammelten Industriedenkmälern und Bauwerken erinnerten uns daran, dass auch Stahl in unserer Region eine sehr große Rolle spielt.

  • Mehrere Rad-Service-Stationen können Radfahrer im Ruhrgebiet auf ihren Ausflügen nutzen, © Jule Wagner
    Verschiedene Affenarten leben neben anderen Tieren in der Zoom Erlebniswelt in Gelsenkirchen, © Jule Wagner
    Das Hotelrestaurant Über Tage bietet köstliche Speisen an, © Jule Wagner
  • Eine Wolke aus Wasserdampf steigt vor der Halde Beckstraße in den Himmel, © Jule Wagner
    Der Tetraeder ist ein Wahrzeichen auf der Halde Beckstraße in Bottrop, © Jule Wagner
    Die Radbrücke Grimberger Sichel in Gelsenkirchen, © Jule Wagner
Jule Wagner genießt die Aussicht vom Gasometer, © Jule Wagner

„Wie riesig diese Gasometer-Blechbüchse ist“, stand ich mal wieder staunend vor dem Riesenzylinder, während Sabine und Bente die Aufzugstür an der Außenseite schon fest im Blick hatten. Ihr wahres Ausmaß zeigte sich beim Besuch des Daches. Denn dort oben erreichten wir dann mit 117,5 Metern den höchsten Aussichtspunkt des Wochenendes, den weitesten Fernblick und meine Knie den Aggregatzustand flüssig. Todesmutig wagte ich mich auf eines der Aussichtsdecks und teilte mir dafür den tosenden Applaus mit den Schlagerkünstler:innen des Musikfestivals in direkter Nachbarschaft.

Ich war froh, als wir wieder am Boden und im kühlen Inneren des alten Gasspeichers standen. Bente eher etwas weniger, denn mit der Ausstellung „Das zerbrechliche Paradies“ folgte ein wenig Erwachsenenprogramm für uns, welches aber auch besonders unsere Kinder etwas angeht. Mit der bewegenden Klimageschichte unserer Erde wurden Emotionen geweckt, die sich in Worten nur noch schwer abbilden lassen, wenn man sich wie wir mit unserem Planeten tief verbunden fühlt. Bis Ende 2022 kann man die bewegende Ausstellung noch besuchen. Ich möchte fast schon darum bitten.

Im wahrsten Sinne nachhaltig motiviert, begaben wir uns auf die ersten Meter des Heimwegs. Während Bente die Abenteuer der ersten Tourenhälfte noch im Schlaf verarbeitete, schenkten wir uns einen kurzen und entspannenden Besuch mit Kinderpause im Biergarten. „Die Route weiß, was Eltern brauchen“, lachten wir gemeinsam beim Picheln eines kühlen Radlers an der frischen und sonnigen Luft. Der weitere Routenverlauf führte uns durch das überwiegend bewaldete Hexbachtal auf schattig-erfrischenden Wegen und spuckte uns direkt am „Radschnellweg Ruhr“ aus.

Einst wird der Radschnellweg RS1 die Städte Duisburg und Hamm und damit auch viele köstliche Rastmöglichkeiten miteinander verbinden. Einige davon prägten auch schon den Abschnitt, der noch vor uns lag. Und als hätte Bente ihr Schläfchen auf die „Kugel Schoki im Becher“ terminiert, schlug sie kurz vor der „Radmosphäre“ ihre Augen wieder auf. Das Radcafé in Essen bietet Knaller-Bedingungen, um sich wohlzufühlen und radelnde Menschen zu treffen. Wer nicht gerade in der Sonne, an der Uferpromenade des Niederfeldsees, ein Eis genießt, entdeckt im Herzen der Räumlichkeiten auch noch Kettenblattlampen, Felgentische und Funzeln in Scheinwerferoptik.

Bevor aber die Beleuchtung an unseren Rädern zum Einsatz kommen sollte, kurbelten wir uns zurück zum eigentlichen Ausgangspunkt der Rundroute. Mit dem Abendessen im Restaurant „The Mine“ im südlichen Fördermaschinenhaus der Zeche Zollverein, stimmten wir uns inmitten der Industriekulisse zwischen Fördergerüst und Bentes Freundin, der Riesenrolltreppe, auch gleich auf den folgenden Tag ein. Dieser sollte ganz im Zeichen des eindrucksvollen Geländes stehen und dabei unseren übersichtlichen Kenntnissen der Kohle-Kulturgeschichte etwas mehr Tiefe verleihen. Zwischen uns und der steilen Lernkurve lag nur noch eine Nacht, und damit auch schon die letzte der kleinen Reise.

Den Standort der Kokerei können Gäste anhand eines Schriftzuges erkennen, © Jule Wagner

Der Morgen begann mit dem Packen unserer wenigen Sachen. Bente hatte sich sicherheitshalber darum gekümmert, dass wir bereits vor dem Frühstück alles verstaut hatten. So fand ich mich nach dem gemeinsamen Essen direkt zum Auschecken an der Rezeption wieder. Der letzte Ausflug fand schnell den Startschuss. Das leichte Gepäck wartete geduldig am Hotel, während wir uns wieder rollend Richtung Zollverein bewegten. Der Rückenwind schob uns zunächst in Eigenregie über die weitläufigen Gelände von Zeche und Kokerei. An nahezu jeder Ecke fanden wir kunstvolle Gebilde, gewaltige Maschinen und natürlich jede Menge Kletter- und Hüpfgelegenheiten für den vollen Akku unserer Tochter.

Die kindliche Neugier erfreute unsere Herzen, schmolz jedoch auch unser üppiges Zeitfenster dahin. So fanden wir unseren Weg über eine Allee aus Schornsteinen bald zurück zum Infopunkt der Kokerei. Hier hatte sich schon eine kleine Traube wissbegieriger Mitmenschen versammelt. „Von Kohle, Koks und harter Arbeit“ sollten wir in einer zweistündigen Führung erfahren und sprichwörtlich tiefe Einblicke in die Produktionsabläufe der einst größten Zentralkokerei Europas erhalten. Eingebettet in die Geschichte des gesamten Zechen-Zirkus, verfolgten wir die Spuren der Kohle bis zum Koks, welcher übrigens mit einer riesigen Menge Wasser runtergekühlt wurde, nachdem er fertiggebacken aus dem Ofen fiel und eine Wolke in den Himmel schickte. Eine Löschwolke.

Jule und ihre Tochter Bente Wagner erkunden das Welterbe Zollverein zu Fuß, © Jule Wagner

Wir stiegen auf die stillgelegten Betriebswege, betraten dabei muckelige Kohlenrutschen, schauten in riesige, tiefschwarze Kohlespeicher und beantworteten unter freudigem Gelächter der Gruppe regelmäßig Bentes Frage, warum wir denn schon wieder stehen bleiben müssen.

Die authentische Atmosphäre machte die stillgelegte Anlage lebendig. Sie wirkt  in den Innenbereichen ganz besonders beeindruckend, denn der staubige Geruch von Kohle liegt dort noch immer in der Luft. Wir konnten trotz spannender Videoberichte ehemaliger Mitarbeiter, reger Ausführungen unseres Gruppenleiters und auch trotz des tiefschwarzen Badewassers unserer Tochter aus dem späteren Tagesverlauf nur erahnen, wie hart und unter welchen Bedingungen hier malocht wurde. Rund um die Uhr. 365 Tage im Jahr. Wahnsinnig. Diese Zechenzeit.

Bei ´ner Tüte Pütt-Pommes, im „Bistro Schacht XII“, die an einem echten Pottwochenende natürlich niemals fehlen darf, beendeten wir unsere Zeitreise durch die vergangene Ära der Kohle-Kultur. Im Schatten des wohl bekanntesten Förderturms der Welt resümierten wir in würdiger Kulisse die vergangenen drei Tage. Moment. Drei? Und konnten unserem Gefühl nur durch Nachzählen begreiflich machen, dass es sich nicht um mindestens eine ganze Woche handelte. Mikroabenteuer. Von wegen.

Die Tatsache, so viel Unbekanntes im Bekannten gefunden zu haben, ließ uns staunen. Vor allem mich, die etwas überheblich glaubte, den Ruhrpott in all seinen Facetten zu kennen und nun ihrer zugezogenen Frau die zauberhaften Gegensätze hatte näherbringen dürfen. Dass wir an dem Wochenende das Auenland der Kohle-Industrielandschaft gemeinsam neu entdecken würden, entzog sich dabei völlig meiner Vorstellung. Der Kontrast zwischen der Industrie, die unser Land so sehr geprägt hat, und der Natur, die unsere Geschichte geduldig trägt, ist immer wieder neu bemerkenswert. „Ich kenne wirklich keinen Ort, an dem sich beides so beeindruckend miteinander verwoben hat wie hier oben, im gesamten nördlichen Teil der Metropole Ruhr.“ Und Sabine stimmte mir zu. So zeigte uns das Ruhrrevier mit seinen RevierRouten nicht nur, wie wertvoll, wichtig und wunderschön unsere Heimat ist, sondern auch, dass Urlaub ist, was wir daraus machen. Dass wir dafür alles in uns tragen. Denn Urlaub ist genau wie Heimat: ein gutes und großes Gefühl im Herzen.

Autorin: Jule Wagner - Jule Wagner lebt und radelt mit ihrer Frau und kleinen Tochter in Essen und arbeitet freiberuflich als Illustratorin und Grafikerin. Die Faszination Radfahren vermittelt Jule mit ihren Illustrationen und Texten über ihren Blog und ihre Social-Media-Kanäle.

  • Die Stahlkonstruktion des Gasometers ist eindrucksvoll, © Jule Wagner
    Gäste machen vom Gasometer Oberhausen den Rhein-Herne-Kanal aus, © Jule Wagner
    Jule und Bente Wagner toben sich auf dem Spielplatz aus, © Jule Wagner
  • Das Gelände des Welterbes Zollverein lädt zur Erkundung ein, © Jule Wagner
    Im Restaurant The Mine stehen verschiedene Gerichte zur Wahl, © Jule Wagner
    Bei einer Tour auf dem Welterbe Zollverein gibt es einiges zu sehen, © Jule Wagner