Aachen, © Anja Luckas

Gekrönte Häupter


Ent­de­ckun­gen in Aachen

Es ist schon eine Weile her, dass ich zuletzt in Aachen war. Damals nur auf der Durchreise. Ich erinnere mich noch, dass ich stets nach dem Turm des weltbekannten Doms zu Aachen Ausschau gehalten hatte. Bis ich plötzlich direkt vor ihm stand. Mitten in der Stadt. Damals hat die Zeit leider nur für einen kurzen Blick ins Innere gereicht. Diesmal nehme ich mir mehr Zeit, will die ganze Geschichte kennenlernen. Von den Römern. Von Bad Aachen, dem großen Stadtbrand von 1656 und natürlich von Karl dem Großen, der mich auch gleich im zentral gelegenen Aquis Grana Cityhotel begrüßt. Ein gekröntes Haupt ganz in Rot und in diesem Fall mit Mund-Nasen-Bedeckung. Sicherheit geht eben vor.

Der Kaiser wird mich in den nächsten 72 Stunden auf Schritt und Tritt begleiten. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Denn das Auto brauche ich für meine Kulturreise in den äußersten Westen Nordrhein-Westfalens nicht. Ich gehe zu Fuß. Einzig bequemes Schuhwerk ist vonnöten, alles andere ergibt sich in der Aachener Altstadt wie von selbst.
 

Hühnermarkt in Aachen, © Anja Luckas

Treffpunkt Elisenbrunnen. Schnell das Gepäck aufs Zimmer gebracht, und schon kann es losgehen. Nur wenige Meter vom Hotel entfernt sitzen die Leute im Park vor dem geschichtsträchtigen Bäder-Bau und genießen die warmen Sonnenstrahlen. Die Straßencafés sind voll und in der Fußgängerzone erklingt Chorgesang. Ein herrlicher Sonntag im September.

Hier wartet bereits Joseph Vandenberg auf mich, passionierter Gästeführer und Öcher mit Sinn für den feinsinnigen Humor. Öcher, gesprochen "Öscher", nennen sich die Aachener in ihrem rheinischen Singsang. Bevor wir unseren Stadtrundgang starten, lässt er mich jedoch zunächst die unschöne Seite Aachens spüren. Genauer: schmecken. Ich nehme einen Schluck des warmen Mineral-Thermalwassers, das in den Kaiserthermen aus dem Maul eines Löwen sprudelt. Einst von den Römern entdeckt, soll das Quellwasser aus der Eifel „jut für gegen alles“ sein. Kann also nicht schaden. Oder doch? Der schwefelige Geruch und vor allem der Geschmack ließen jedenfalls anderes vermuten. Wir einigen uns schließlich auf „kulinarisches Ei-Wasser“.

Wir folgen nun dem Siegel Karls des Großen. Es markiert auf dem Kopfsteinpflaster der Altstadt die wichtigsten Stationen des Kaisers, der um 798 in Aachen mit Bau seiner Pfalzkapelle begann. Dem heutigen Dom. Seit 1978 steht das beeindruckende Bauwerk, das wegen der 23 Meter hohen bunten Glasfenster auch das „Glashaus von Aachen“ genannt wird, auf der Liste der Unesco-Welterbestätten. Als erstes deutsches Bauwerk überhaupt. „Noch vor dem Kölner Dom“, vergisst Joseph Vandenberg nicht zu betonen, während wir vorbei an der archäologischen Vitrine mit Funden aus der Römerzeit, dem Brunnen „Kreislauf des Geldes“ und dem Couven Museum weiter Richtung Rathaus laufen.

Im historischen Ratssaal, errichtet auf den Grundmauern der früheren „aula regia“, tagt noch heute der Rat der Stadt Aachen unter den Augen Kaiser Napoleons I. und seiner Gattin Joséphine. Der französische Kaiser war ein glühender Verehrer Karls des Großen, der wohl tatsächlich eine „schillernde Figur“ und vor allem von stattlicher Größe gewesen sein muss. Gleich mehrfach werde ich während meines Aufenthaltes in Aachen erfahren, dass der Mann, von dem man bis heute nicht weiß, wie er wirklich ausgesehen hat, gut 1,85 Meter groß war. Also gut einen Kopf größer als sein Volk, dem er unbedingt Lesen und Schreiben beibringen wollte und dem er die erste europäische Währung bescherte. Das Karlspfund.

Ich erfahre noch viel mehr über den Kaiser, auf den sie in Aachen so stolz sind, und muss plötzlich daran denken, was mein fachkundiger Stadtführer gleich zu Beginn unserer kleinen Stadttour gesagt hatte: „Wenn wir die Römer und Karl den Großen nicht gehabt hätten, wäre Aachen heute wohl eine unbedeutende Kreisstadt. Ähnlich wie Köln ...“ Ich lasse das mal so stehen.

Tatsächlich aber haben die Aachener etwas, was die Kölner nicht haben. Die Printe. Ein ziemlich hartes Stück Gebäck, ganz ohne Fett. Aber mit jeder Menge Zucker. Bevor ich am nächsten Tag in der traditionsreichen Printenbäckerei Klein einen Blick in die Backstube werfen darf, bekomme ich sie am Abend bereits im Restaurant Elisenbrunnen serviert. Ja, ist etwa schon Weihnachten? In Aachen eigentlich immer. Denn was ich als Sauerländerin lediglich aus dem Advent kenne, gehört in der Kaiserstadt zum täglichen Leben wie die Butter zum Brot. Es gibt Printen zum Kaffee. Printen zum Tee. Printen im Sauerbraten und Printen im Öcher Tiramisu. „Besser als das Original“, verspricht die Speisekarte des Restaurants, das sich seit diesem Sommer in völlig neuem Glanz präsentiert. Mit stylischer Weinwand und gemütlicher Lese-Lounge. Ich finde noch einen Platz auf der großen Terrasse mit Blick auf den Park und versuche hinter das Geheimnis der Kräuterprinte zu kommen. Spätestens morgen werde ich es dann hoffentlich lüften.

 

  • Aachener Dom, © Leo Thomas
    Marienfigur im Aachener Dom, © Anja Luckas
    Mineral-Thermalwasser sprudelt in den Kaiserthermen aus dem Maul eines Löwen, © Anja Luckas
  • Ludwig Forum Innenansicht, © Anja Luckas
    Anja Luckas betrachte das Bronzemodell des Aachener Doms, © Anja Luckas
    Katschof mit Blick auf den Aachener Dom, © Anja Luckas
Blick auf Aachen vom Lousberg, © Anja Luckas

Ich bin wahrlich kein Frühaufsteher. An diesem Morgen aber zieht es mich zeitig aus dem Bett. Es ist schon herbstlich frisch, doch die Morgensonne scheint und ich laufe zum höchsten Punkt der Stadt. Ich erklimme den Lousberg, eine kleine grüne Oase mitten in der Stadt. Niemand außer mir ist hier an diesem Vormittag unterwegs, und ich genieße den Ausblick auf die Stadt und ihren wohl bekanntesten Stadtteil, die Soers. In nur wenigen Tagen trifft sich hier die internationale Reitelite beim CHIO.

Auch auf dem Katschhof, dem großen Platz zwischen dem Rathaus und der Rückseite des Doms, werden an diesem Morgen bereits Tribünen aufgebaut. Denn vor der imposanten Kulisse beenden jedes Jahr im September die Stabhochspringer ihre Saison. Leider kann ich so lange nicht bleiben, aber es warten ja auch so noch einige „Großereignisse“ auf mich. Zuallererst natürlich das Innere des Doms mit den glänzenden Reliquienschreinen und dem Kaiserthron, auf dem bis ins 16. Jahrhundert 32 Könige – und wohl auch einige Königinnen – gekrönt wurden. Vereinzelt macht sich Enttäuschung in der Gruppe breit. Denn es handelt sich lediglich um einen schlichten, aus Bodenplatten zusammengeschweißten „Stuhl“. Mehr nicht. Immerhin, so berichtet unser junger Domführer, sollen die Steinplatten der Seitenwände aus Jerusalem stammen. Vielleicht eine kleine Entschädigung.

Umso spektakulärer ist jedoch der Blick in die gotische Chorhalle, die im 15. Jahrhundert an das von Karl dem Großen erbaute Oktogon angebaut wurde. Der Reihe nach machen wir Fotos von den riesigen Glasfenstern, durch die das Licht in allen Farben scheint. Welchen Glanz wohl erst die Domschatzkammer noch zu bieten hat? Immerhin hütet sie den größten Kirchenschatz nördlich der Alpen.

Vor dem Besuch dort will ich mir meine Städtereise aber noch ein wenig versüßen. Etwas abseits der Innenstadt treffe ich Andreas Klein. Der gelernte Bäckermeister führt bereits in vierter Generation die familiäre Printenbäckerei, in der das ganze Jahr über das Traditionsgebäck produziert wird. Für mich riecht es, siehe oben, nach Weihnachten, als wir die Backstube betreten und der Chef endlich das Geheimnis lüftet. In die Original-Printe gehören Weizenmehl, Anis, Koriander, Zimt, Farinzucker, Nelken und Kandis. Kein Ei, keine Butter und keine Milch. Als einzige Flüssigkeit kommt Zuckersirup dazu. Und fertig ist das Grundrezept, das mal mit Schokolade, mal mit Nüssen oder Mandeln verfeinert und schließlich „ablackiert“ wird. Natürlich darf ich auch probieren und komme tatsächlich auf den Geschmack. Auch wenn es bis Weihnachten noch ein wenig dauert.

Nach so viel Zucker brauche ich am Abend dann aber doch etwas Herzhaftes. Also schlendere ich wieder durch die Gassen der Altstadt und kann mich kaum entscheiden. Die Biergärten am Markt sind gut gefüllt. Das idyllische Hof-Viertel ist ein beliebter Treffpunkt für den Feierabend. Und auch die Türen des Ratskellers sind geöffnet. Ich laufe trotzdem weiter zur Pontstraße, in das belebte Studentenviertel mit Bars und Kneipen, in denen immer bis spät in die Nacht was los ist. Immerhin sind knapp ein Fünftel der 275.000 Einwohner an der RWTH oder der Fachhochschule Aachen eingeschrieben. Bei einer libanesischen „Schawarma“ erinnere ich mich an meine eigene Studienzeit zurück. Schon lange her.
 

  • Alte Printenform Bäckerei Klein, © Anja Luckas
    Zutaten Aachener Printen, © Anja Luckas
    Bäckermeister Andreas Klein, © Anja Luckas
  • Aachener Printen, © aachen tourist service e.v., Tom Tietz
Ludwig Forum Innenansicht, © Anja Luckas

Wie eine Zeitreise in die eigene Geschichte beginnt schließlich auch Tag 3, mein letzter Museumstag in Aachen. Denn im Internationalen Zeitungsmuseum, das etwas versteckt ebenfalls in der Pontstraße liegt, kommt mir vieles bekannt vor. Erinnerungen werden wach, als die Presse-Fotografie noch analog war und die Nachrichten noch aus dem „Ticker“ kamen. Ich weiß, wovon ich rede und finde dennoch viele spannende und auch neue Einsichten in die Geschichte der Zeitungen und Presse. Eine schöne Abwechslung zur geballten Stadtgeschichte der letzten beiden Tage. Deshalb fällt meine Wahl für den letzten Museumsbesuch vor der Heimreise auch auf das Ludwig Forum für Internationale Kunst, dessen Räumlichkeiten allein schon einen Besuch lohnen. Denn untergebracht ist das Museum für moderne Kunst, in der große Namen wie Roy Lichtenstein, Andy Warhol und auch Joseph Beuys auf mich warten, in der einst größten Schirmfabrik Europas. Das Fabrikgebäude im Bauhausstil bietet den teils ausladenden Werken und zeitkritischen Installationen viel Raum und Licht. Und mir den gelungenen Ausklang eines Kulturtrips in eine Stadt mit so vielen Facetten. Ab sofort darf Karl der Große wieder übernehmen.

Autorin: Anja Luckas - Anja Luckas ist freie Journalistin und Autorin und viel in Nordrhein-Westfalen unterwegs. Dann spürt sie die schönsten und außergewöhnlichsten Orte auf, um ihre ganz eigenen Geschichten darüber zu erzählen.