Jule Wagner auf Gravelbike, © Jule Wagner

Ein Wochenende "steinreich"


Entdeckungen im Sauerland

Es war Freitagmittag. Auf dem Schreibtisch tobte noch etwas das Chaos und im Keller die dreckige Wäsche. Während ich versuchte, Herrin beider Schlachtfelder zu werden, lief ich Slalom um Kinderspielzeug und balancierte dabei mein schlechtes Gewissen an den beiden Hunden vorbei. Abwechselnd fixierten sie mich und die Haustür mit ihren Kulleraugen. Die Werktags-Müdigkeit löste sich jedoch stetig durch die Spannung auf das anstehende Wochenende. Denn mitten im Gewühl stand meine Reisetasche und während ich die Fellnasen auf ihre Runde begleitete, warf ich gedanklich schon ein Teil nach dem anderen hinein. Ich war etwas aus der Übung – seit meiner Ankunft im Familienleben und der monatelangen Covid-Challenge war ja selbst der Radius für das „einfach mal kurz raus“ auf ein Minimum geschrumpft. Jetzt war ich wieder voller Vorfreude.

Ich schrieb noch „Tschüss Schatzis – ich vermisse euch jetzt schon“ auf einen Zettel in der Küche und machte mich auf den Weg in das Mikro-Abenteuer. Den Alltags-Auflauf hatte ich beiseitegeschoben und stattdessen alle Zutaten für mein Leibgericht in den Kofferraum gewuppt: mein großartiges Gravelbike, eine feine Routenauswahl, staubiges Wetter mit Garantie auf Sonnenbrand, Zeit bis Sonntagnachmittag, eine Auswahl an diversen Keksen und natürlich das fertig gepackte Reisetäschken.

Nahaufnahme Distel , © Jule Wagner

Nicht mal zwei Autostunden später fand ich mich auf dem Parkplatz des Aktiv Hotel Winterberg wieder. Im Sauerland. Also quasi umme Ecke. Und obwohl sprichwörtlich schon einige Jahre ins Land gegangen waren, spülte mir meine Erinnerung an die Kollektion meiner Aufenthalte hier gleich eine mittelscharfe Portion Laktat in die Beine. Der Hauptteil meiner Besuche lag nämlich zwischen einer Start- und Ziellinie und der Fokus ganz klar darauf, letztere möglichst schnell zu erreichen. Mountainbike-Marathon hieß meine Lieblingsbeschäftigung am Wochenende. Es war mir das größte Vergnügen, mich bei Pulswerten um die 180 stundenlang sämtliche Berge hochzuhieven, um sie im Anschluss wieder runter zu sprinten – auch mit 180 Puls versteht sich. Im Ziel ließ ich mich dann von der bereitgestellten Kuchentheke auffangen und zündete ein glückliches Kalorienfeuerwerk. Schon ein wenig verrückt – so aus heutiger Sicht. Wie man sich vielleicht vorstellen kann, fehlte mir in dem ganzen Unterfangen etwas der Blick für Land und Leute. Beim anstehenden Besuch sollte es nun etwas anders aussehen. Halleluja.

Ich öffnete die leicht moosbewachsene Kofferraumklappe meiner Blechschüssel, schaute auf meine glänzende und funkelnde Kieskutsche und musste fröhlich grinsen: „In den folgenden 48 Stunden werden viele schöne Kilometer auf uns warten“. Vermutlich wartete auch eine kleine Herausforderung auf mich und meine eher kilometerentwöhnten Radelhaxen. Ich konnte mich nicht wirklich erinnern, wann ich das letzte Mal so viel Zeit auf dem Rad verbracht hatte. Dafür erinnerte ich mich aber lupenrein daran, wie fertig ich neulich einmal war, nachdem ich unsere 2-jährige Tochter 30 flache Kilometer mit dem Cargobike rum geschippert hatte.

„Wird schon“, machte ich mir selbst Mut, denn so war der größte und wichtigste Unterschied zu den damaligen Zeiten wohl der, dass es nicht mehr um die Beschleunigung ging und um das besonders schnelle Ankommen im Ziel, sondern um das besonders schöne Ankommen bei mir selbst. Und so freute ich mich einmal mehr darauf, das Sauerland rund um Winterberg von seiner entschleunigenden Seite kennenzulernen, mit dem Gravelbike und ner Schippe Zeit.

Gravelbike lehnt an Bank, © Jule Wagner

Das Gravelbike hat sich unlängst zur Trendmaschine entwickelt und sich in die Herzen der Zweirad-Liebhaber*innen gefahren. Nicht wirklich ein Wunder, denn es verschmilzt die Welten von Rennrad und Mountainbike und verbindet Tempo und Eleganz mit dem wilden Rumpeln durch den Wald. Dazwischen liegt der unbeschwerte Flug über den Schotter, der jederzeit Ausflüge in die anderen beiden Bereiche offenhält. In den letzten Jahren habe ich diese Bereiche kennen und lieben gelernt und schätze die Freiheit, die mir das Gravelbike schenkt, darum sehr – mit all seinen Facetten.

Mit Empfehlungen der Sauerland-Radwelt hatte ich für meine kleine Rauszeit drei Touren im Gepäck, die sich alle im Tourenportal der Bike Arena Sauerland finden und natürlich für Gravelfans geeignet sein sollten. Der Startpunkt der Touren lag jeweils am Parkplatz des Trailparks in Winterberg und war nur wenige hundert Meter vom Hotel entfernt. Ganz frei nach dem Motto „Vonne Poofe anne Piste“. Eine großartige Voraussetzung für maximale Zeitfenster. So gefällt mir das. Jede Route führte in eine andere Himmelsrichtung und mein Grinsen einmal um den Kopp.

  • Jule mit ihrem Gravelbike, © Jule Wagner
    Steinbruch im Sauerland, © Jule Wagner
    Eidechse auf steinigem Untergrund, © Jule Wagner
  • Mohnblumen am Wegesrand im Sauerland, © Jule Wagner
    Jule liegt auf der Wiese und ruht sich aus., © Jule Wagner
    Jule am Hillebachsee im Sauerland, © Jule Wagner

Für die zwei halben Reisetage, Freitag und Sonntag, boten sich Touren um die 40 Kilometer an, auf denen sich jeweils knapp 500 Höhenmeter verteilen sollten. Die Königsetappe sollte am Samstag 60 Kilometer langen Schotterspaß bieten und sogar die schöne Marke von 1000 Höhenmetern knacken. Der Tourentopf hatte natürlich auch noch einiges aus der Kategorie „höher, schneller, weiter“ im Angebot. Für mich fühlte sich aber genau diese Auswahl goldrichtig und vor allem sehr machbar an. Im Fokus des Geschehens stand schließlich der pure Gravel-Genuss mit der ein oder anderen Unterbrechung aus dem Süßspeise-Segment.

Durch die kurze Anreise konnte ich gleich ausgeruht in die Radklamotten hüpfen und motiviert auf dem Sattel landen. Es war gerade einmal 15 Uhr, als ich ausgeruht vom Parkplatz über die Straße und auf den ersten Schotterweg rollte. Wobei es mit dem Rollen auch schnell wieder vorbei war, denn der Berg rief: Der Kahle Asten, mit 841 Metern NRWs zweithöchster Berg, hatte neben großartigen Panoramen übrigens auch vorzüglichen Milchreis zu bieten. Essen mit Aussicht lohnt sich ja immer und ist auch nach knapp 20 Minuten durchaus empfehlenswert. Es warteten ja noch einige Kilometer mit der einen oder anderen Erhebung, wie mir der Blick in die Ferne deutlich zu verstehen gab. Eine ziemlich geniale Vorschau auf das Wochenende, gleichzeitig mit der Gewissheit, dass es wohl viele spektakuläre Aussichten bereithalten würde. Und so sollte es sein. 

Die weitere Routenführung hatte Altastenberg, Nordenau, bekannt als „Perle des Hochsauerlandes“, und den tiefsten Ort der Tour, Westfeld, wie im Flug miteinander verbunden. In der langsam untergehenden Sonne strahlten die Weiden und Wälder so golden, dass die lange Talfahrt himmlisch wirkte und mir nahezu mühelosen Vortrieb für die anstehenden Höhenmeter zurück nach Winterberg verschaffte. Hier hätte ich auch gern „schwerelos“ geschrieben – doch ganz so leicht fühlten sich die 250 Höhenmeter auf den letzten zehn Kilometern dann leider doch nicht an. Verdient war dafür jedoch der üppig gefüllte Teller samt frisch gezapftem Bier aus der Küche des Landgasthofs Gilsbach, dessen freundliches Personal mich mit frischen, saisonalen und regionalen Köstlichkeiten für den nächsten Tag gestärkt hatte.

Hillebachsee , © Jule Wagner

Dieser begann um 10 Uhr mit einem Treffen vor dem Hotel, auf das ich mich schon ganz besonders freute, denn ich hatte ein Königsetappen-Date mit Local Luisa. Wir kannten uns schon einige Jahre von diversen Startlinien des Umlandes und hatten allerhand Rennkilometer miteinander geteilt. Ich war sehr gespannt auf das Wiedersehen in weniger roten Pulsbereichen, aber dafür mit viel Luft zum Quasseln.
Gemeinsam starteten wir die Tour „Zu den Steinen“. „Wie passend für ne Graveltour“, freute ich mich. Gemeint waren hier jedoch die Bruchhauser Steine. Eine historische Sehenswürdigkeit, denn das erste nationale Naturmonument in NRW stammt bereits aus dem Erdaltertum. Das ist ca. 370 Mio. Jahre her. Wer die vier Vulkanfelsen aus der Nähe betrachten möchte, benötigt dazu allerdings ein Fahrradschloss, ein paar Taler und festes Schuhwerk, denn die Felsen, die mich beim Betrachten aus der Ferne an Mini-Dolomiten erinnerten, stehen in dem geschlossenen Gebiet einer Stiftung, die den Erhalt und die Pflege sichert. 
Nach einem kurzen Stopp am Hillebachsee, einem kleinen Stausee mit großem Angebot, genossen wir die Steine auf Entfernung und merkten dabei gar nicht, wie schnell Zeit und Kilometer schwanden. Angesichts der Höhenmeter dieser Tour, wäre eine ausgedehnte Pause an der Badebucht mit Strand oder das Auflockern unserer Beine mit dem Wasserski-Angebot allerdings auch nicht die schlechteste Idee gewesen. Es blieb dann aber bei der 1,6 Kilometer langen Umrundung und dem Plan nochmal wiederzukommen. 
Kurz und abwechslungsreich führte uns die Route über diverse Schotterkörnungen ins Nachbarbundesland. Am Fuße des Ettelsbergs in Willingen ergatterten wir eine großartige Portion Apfelstrudel und die Energie für die restlichen 15 Kilometer. Forstwege und Asphaltabschnitte begleiteten unsere herzlichen Gespräche über Land und Leute bis nach Winterberg zurück.

Wovon wir nichts ahnten: Ein Highlight wartete noch auf uns. Ein kulinarisches. Das gemeinsame Essen im Landfein. In Erwartung eines eher klassischen Abendessens wurden uns hier jedoch viele kleine und besonders leckere Köstlichkeiten in einem Menü geboten. Die moderne Küche lud ein, bekannte und traditionelle Zutaten komplett neu zu entdecken, denn wir wählten nur die Hauptspeise aus. Alle weiteren Gänge des Menüs waren wortwörtlich eine genussvolle Überraschung. Und so trifft die Beschreibung „Genusswirtschaft“ genau den Kern unseres Abends, da neben all den liebevoll zubereiteten und angerichteten Speisen, die Atmosphäre genau so herzlich und gemütlich wie geschmackvoll war. 

Der letzte Tag fühlte sich gar nicht an wie ein Abreisetag. Das lästige Packen dauerte nur wenige Minuten, wenn man bei den drei mitgenommen Klamotten überhaupt von einem Packen sprechen konnte, und auch sonst blieben die Gedanken an eine Rückreiseplanung aus. Urlaub vor der Haustür – ebenso einfach wie genial. Anstatt den ganzen Tag mit der Heimreise zu verplempern, stieg ich auf mein Rad anstatt ins Auto und drehte in Ruhe die letzte Runde. Panoramatour nannte sie sich und meinte damit wohl unter anderem die zahlreichen Weitblicke ins Waldecker Land. Ein kurzer Blick in die Skihütte Pastorenwiese reichte aus, um zu entscheiden meine kleine Pause mit einer frischen Waffel zu schmücken. Eine gute Gelegenheit die Zeit im Sauerland nochmals Revue passieren zu lassen. 

Selfie von Jule, © Jule Wagner

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Für Freunde der Lüfte oder Fans des Wassers hält das nahezu lückenlose Touristikprogramm übrigens auch sonst zahlreiche Möglichkeiten für attraktive Pausen bereit: Von Wasserski bei 30 km/h bis zu gigantischen Seilrutschen wie den Astenkick, bei dem man sich auf einem Kilometer auf bis zu 70 km/h beschleunigen kann, ist wirklich alles zu haben. Mir gefällt ja Wasser zum Waschen und Luft zum Atmen, darum bin ich bei meinen beiden Lieblingsbeschäftigungen geblieben: Radfahren und Essen.

Zweifellos war es ein ausgezeichneter Plan für mein ausgehungertes Radelherz an wohl einem der besten Orte eine sportliche „Auszeit“ zu nehmen, um es mal ganz in Ruhe so richtig krachen zu lassen. Denn ist man erstmal auf einer Route, taucht man schnell in eine nahezu menschenleere landschaftliche Naturschönheit ein. 
Vom feinen Einsteiger-Kies bis zum groben Gravel-Geröll hat das Terrain die verschiedensten Körnungen zu bieten. So folgte ich ohne Widerworte den zahlreichen Einladungen schnurgerader Pisten, die Beine ordentlich fliegen zu lassen. Vorbei an klaren Seen und verwunschenen Tümpeln steuerten mich hin und wieder auch bewaldete Wurzelwege neben endlos scheinende Schotterpfaden in mein ganz persönliches Gravel-Glück. 

Ich genoss den Duft von dichtem Wald, die Luft vom freien Feld und die Freiheit meiner unbeschwerten Gedanken. Saftige Wiesen und aussichtsreiche Bänke luden gleichermaßen zum Verweilen ein und so gab es für jeden Keks aus der Lenkertasche auch ein passendes Plätzchen. Eine regelmäßige Kalorienzufuhr sollte bei körperlicher Aktivität natürlich sichergestellt sein, denn die Routen führten mich auch auf eine Vielzahl von Bergen und auch mal an den Rand meiner Übersetzung. Aber natürlich nur, um mir die Gewissheit zu geben, dass schon ganz bald wieder eine spektakuläre Aussicht auf mich wartet oder eben eine Hütte mit heißem Waffeleisen. Die Mittelgebirgsregion machte es mir wirklich leicht, mich nochmals neu zu verlieben.

So nahm meine "Vollentschleunigung" im scheinbar endlosen Gravelgeflecht ihren Lauf. Wäre meine Zeit ähnlich endlos gewesen, wäre ich vermutlich noch länger geblieben. So musste ich aber irgendwann wieder ankommen, und das tat ich. Nicht nur bei mir selbst oder zu Hause, sondern besonders bei der Gewissheit: Es braucht nicht viel und vor allem nicht weit, um „steinreich“ zu sein.

Autorin: Jule Wagner - Jule Wagner lebt und radelt mit ihrer Frau und kleinen Tochter in Essen und arbeitet freiberuflich als Illustratorin und Grafikerin. Die Faszination Radfahren vermittelt Jule mit ihren Illustrationen und Texten über ihren Blog und ihre Social-Media-Kanäle.

  • Panoramablick im Sauerland , © Jule Wagner
    Kühe auf der Wiese im Sauerland, © Jule Wagner
    Gravelbiken auf Feldweg im Sauerland , © Jule Wagner
  • Waffel mit Puderzucker, © Jule Wagner
    Gravelbike vor schöner Aussicht, © Jule Wagner
    Skihütte Pastorenwiese, © Jule Wagner