2018 Landschaftspark DuisburgNord, © Ruhr Tourismus GmbH, Hoffmann

Reportage Sound of Ruhrgebiet


Die ganze polyzentrische Pop-Historie des Ruhrgebiets von damals bis heute

Grugahalle Essen, © Rainer Schimm

Essen


Direkt am Hauptbahnhof begrüßt uns eine überdimensionale Leuchtreklame mit den Worten: „Essen. Die Einkaufsstadt“. Seit 1951 hängt dieser Schriftzug auf einem gegenüberliegenden Hotel wie ein Relikt der Nachkriegszeit, als sich Essen als Konsummetropole des Ruhrgebiets etablieren wollte. Lässt man sich von diesem Claim nicht ausschließlich in die Einkaufsstraßen locken, kann man eine Kulturstadt entdecken, die ein perfekter Startpunkt für eine Erkundungstour zum Sound des Ruhrgebiets ist. In alle Himmelsrichtungen ist es popmusikalisch spannend: Nach Norden hin gelangt man zur Lichtburg, einem der ältesten und prachtvollsten Kinos des Landes mit Deutschlands größtem Kinosaal. Ein Schauplatz für Dreharbeiten und gefeierte Filmpremieren ebenso wie für besondere Konzerte. Nicht weit entfernt von der Lichtburg betreibt der Lebemann und kreative Irre Kay Shanghai seinen überregional bekannten Elektroclub Hotel Shanghai. Am Ende der Einkaufsstraßen findet sich am Viehofer Platz ein Bermuda-Dreieck für Fans des beinharten Rocks. Im Osten wiederum liegt das Viertel Essen-Steele, um dessen Jugendzentrum HüWeg und das Kulturzentrum Grend sich die Punkszene der Stadt organisiert. Und südwärts am Rüttenscheider Stern zeigt sich Essen als internationale, urbane und dem Hipster-Zeitgeist verhaftete Großstadt mit charmanten Cafés und ungewöhnlichen Clubs. Außerdem ist von hier die Grugahalle nicht weit. 

Pamm-Pamm! „One, two, three o’clock, four o’clock Rock”. Zwei Snaredrum-Schwinger wie Pistolenschüsse, die Gitarre kommt hinzu: „Five, six, seven o‘clock, eight o‘clock Rock“. Bill Haleys Stimme wird drängender, der Kontrabass dräut: „Nine, ten, eleven o‘clock, twelve o‘clock Rock“. Exakt elf Sekunden sind vergangen und der harte Arbeitstag ist vergessen. „We‘re gonna rock around the clock tonight!“. Bill Haley & His Comets bringen den Rock’n’Roll und ist er einmal da, geht er auch nicht wieder weg.

Wir stehen im Stadtteil Rüttenscheid im Süden von Essen und blicken auf das ikonische Stahldach der Grugahalle, das einem leicht nach links geneigten Schmetterling im Abflug gleicht und damit den Aufbruch in eine neue Zeit symbolisiert. Mit ein bisschen Phantasie lässt es sich zurückdenken in die 50er Jahre, als der Rock’n’Roll über das Ruhrgebiet hereinbricht und den Jugendlichen einen Ausblick in eine Welt ohne rauchende Schlote und Arbeitsfrust ermöglicht.

Es ist der 28. Oktober 1958, nur drei Tage nach Halleneröffnung und Bill Haley betritt die niedrige Bühne der Grugahalle, nachdem das Publikum den Eröffnungs-Act, die elegante Kurt Edelhagen Bigband, ungeduldig und ablehnend hinter sich gebracht hat. Er ist ein Rock’n’Roll -Botschafter und sein Konzert eine popmusikalische Zeitenwende.

Denn die 50er Jahre im Ruhrgebiet sind eine Welt aus malochenden Kumpels im Tagebau, kriegsversehrten Straßenkulissen und rußiger Luft. Aber ebenso von einem beginnenden Wirtschaftswunder, das den Traum von Elektroherden und Waschmaschinen in praktischen Neubau-Arbeitersiedlungen befeuert. Die Älteren richten sich materialistisch befriedigt im Mief der Adenauer-Jahre ein und hören dementsprechende Musik. Angesagt in den frühen 50er Jahre sind Swing und Jazz, gespielt in Tanzpalästen und teils wunderschönen, großen Sälen in Gasthöfen. Größter Star aus dem Kohlenpott ist der Dortmunder Karl Heinz Schwab. Unter seinem Künstlernamen Ralf Bendix konvertiert er amerikanische Folk- und Boogiesongs zu schmierig-anrüchigen Schlagern. Er ist es auch, der später Heino entdeckt, managt und produziert.

In diese Welt der Erwachsenen platzt der provokante Rock’n’Roll wie eine Bombe. Er kommt über Kirmes-Betreiber ins Land, die durch Europa touren und die aktuellsten Platten mitbringen. Ihre Fahrgeschäfte werden zu rollenden Discos, an denen die Jugendlichen zusammenkommen, um ihre Elvis-Tollen, Röhrenjeans und Lederjacken auszuführen und zu den neuesten Hits zu rocken. Eng verbunden mit der Motorrad- und Rockerszene gründen sich über das ganze Ruhrgebiet verteilt James Dean-Clubs, Buddy Holly-Clubs, Elvis-Clubs.

Ende 1956 läuft dann Bill Haleys Film Rock around the Clock (auf Deutsch: Außer Rand und Band) in den Kinos an. Es kommt im Anschluss an die Vorführungen zu Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei in Gelsenkirchen. Andere Städte folgen. Rund um das Dortmunder Capitol-Kino brechen drei „Dortmunder Chaostage“ aus, die als die ersten, großen Jugendkrawalle der bundesrepublikanischen Geschichte gelten, auch wenn deren Ergebnis lediglich ein paar demolierte Mülleimer und ein paar zerbrochene Schaufensterscheiben sind. Die Presse reagiert aufgeregt und Bill Haley wird zu einer Symbolfigur des jugendlichen Protests gegen die Spießigkeit der Adenauer-Jahre. Auch deshalb ist seine Show im Ruhrgebiet viel mehr als ein Liveauftritt. Sie ist – bis heute - der Inbegriff dafür, warum Rock und Roll und Pop und Metal und Hip Hop und Electro im Ruhrgebiet mehr sind als Musik. Sie sind Aufstand gegen die Obrigkeiten und die Welt der Spießer, Ausflucht aus dem Grau des Kohlenpotts, aber auch ein Moment der exzessiven Euphorie. Und immer auch der unwiderlegbare Beweis dafür, dass der Ruhrpott popkulturell keineswegs so abgehängt ist, wie er sich zuweilen anfühlen kann, ganz im Gegenteil: In Augenblicken wie diesen, wenn in der Grugahalle die Lichter ausgehen und die Musik beginnt, fühlt es sich an, als wäre man am besten Ort der Welt.

Ohne Zweifel ist die „Gruga“ das popmythische Herzstück des Ruhrgebiets. Hier spiegeln sich die großen musikalischen Revolutionen im Lauf der Zeit: Im September 1965, nicht lang nach der Veröffentlichung ihrer Hitsingle „(I can’t get no) Satisfaction“ gastieren die Rolling Stones in Essen. 1968 findet in der Grugahalle mit den „Internationalen Essener Songtagen“ das erste große ‚Klassentreffen‘, avantgardistischer und politischer Künstler*innen aus Chanson, Rock, Kabarett und Folk statt, ein Jahr später das erste kommerzielle Festival der deutschen Popgeschichte. Das „Internationale Essener Pop- und Bluesfestival“ bringt Weltstars wie Pink Floyd, Fleetwood Mac, Deep Purple und viele weitere in den Ruhrpott. Der Zuschauerandrang ist am letzten Tag so riesig, dass eine Panik nur dadurch vermieden werden kann, dass einige der Bands umsonst für die Fans auf dem Platz vor der Halle spielen. Ab 1977 schließlich wird Essen durch die europaweit live ausgestrahlten Musik-Nächte zur ‚Stadt des Rockpalasts‘. In 17 TV-Shows spielen Bands wie The Kinks, The Who, Van Morrison und viele, viele weiteren in Essen für die Fernsehzimmer Europas.

Und auch die größte Band aller Zeiten hat eine Grugahallen-Geschichte. 1966 spielen die Beatles ihre einzige Deutschland-Tour. Drei Städte steuern die Fab Four auf der „BRAVO-Blitztournee“ an: München, Hamburg und: Essen! Elf Songs präsentieren sie in dreißig Minuten bei ihren Auftritten, die erste Textzeile ist unmissverständlich: „Just let me hear some of that rock and roll music!”. Mit diesem Coversong von Chuck Berry als Eröffnungsstück schlagen sie die Brücke vom Rock’n’Roll der späten 50er Jahre zum Beat der 60er. Im Ruhrgebiet vernimmt man diesen Aufruf mit offenen Ohren. Und in einem Kirchenkeller in der Bergarbeiterstadt Gelsenkirchen beginnen die ersten, ihn in die Tat umzusetzen.

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Matthäus Kirche, © Michael Westphal

Gelsenkirchen


An der Grugahalle steigen wir in die U-Bahn. Sie kurvt uns in einer guten Stunde durch Essens Zentrum, passiert das Metal-Herz des Ruhrgebiets Altenessen rund um die Zeche Carl und rollt uns nach Gelsenkirchen-Buer. Nichts sieht hier nach Bergbau und Malochertum aus. Es ist überraschend grün, hübsche Parkanlagen sorgen für Wohnqualität, eine gemütliche Reihenhaussiedlung reiht sich an die nächste. Um die Ecke liegt die Veltins-Arena, Heimspielstätte des FC Schalke 04, dem größten Stolz der Viertelmillionen-Einwohner-Stadt an der Emscher. Wir suchen hier die Matthäus-Kirche an der Cranger Straße. Erst auf den zweiten Blick identifizieren wir das hinter Bäumen versteckte rote Backsteingebäude mit seinem freistehenden, viereckigen Glockenturm. Durch die Fenster erhaschen wir einen Blick auf den schlichten Innenraum. Beim Gang um die 1960 eingeweihte architektonisch seinerzeit gewagte evangelische Kirche entdecken wir im hinteren Teil ein paar kleine Aufenthaltsräume. Andächtig bleiben wir stehen: Hier war Mitte der 60er Jahre der ‚Tempel‘.

Anfang der 60er Jahre hüpfen Skiffle und der daraus erwachsende Beat von Liverpool über die Hamburger Reeperbahn bis in die hintersten Ecken des Landes. Plötzlich greifen überall Jugendliche zu Instrumenten und gründen Bands, die wie die Beatles, die Stones oder die Kinks klingen sollen. Hilfestellung geben vielfach engagierte Kirchenmänner. Beispielsweise Pfarrer Wichmann in Gelsenkirchen-Buer, der aus den Jugendrandalen der späten 50er Jahre den Schluss zieht, den unter der Kirche befindlichen Jugend-und Gemeindesaal zu einem Treffpunkt und Freizeitort zu machen. Dabei weiß er sich einer Meinung mit den Jugendämtern, die das (im Vergleich zum räudigen Rock’n’Roll) brave Skiffle- und Beatmusizieren als unterstützenswerte Aktivität gegen Jugendkriminalität bewerten. So werden die Räumlichkeiten der Matthäuskirche zu einem ersten Spielort für Beatbands, die im ganzen Ruhrgebiet entstehen. Pfarrer Wichmann macht Gelsenkirchen-Buer auf diese Weise bis Mitte der 60er Jahre zu einem Zentrum der Bewegung mit bis zu 1.500 Bands. Und die Matthäuskirche wird zum ‚Tempel‘.

Recklinghausen

Fast gleichzeitig tritt der Jugendwohlfahrtspfleger Kurt Oster in Recklinghausen auf den Plan. In der Vestlandhalle veranstaltet er anstelle der städtisch organisierten Tanztees und Jugendbälle nun Beatfestivals. Sie werden mitorganisiert von einem „Arbeitskreis Jugendförderung“, in welchem sich Pädagogen, Eltern und Ehrenamtler versammeln, und sind immens erfolgreich. Nicht selten treten an einem Wochenende mehr als 100 Beatgruppen vor tausenden jugendlicher Fans auf. Das verschafft Recklinghausen den augenzwinkernden Beinamen „deutsches Liverpool“. Kurt Oster ist auch derjenige, der den Kontakt nach Hamburg aufbaut und einen Wettbewerb zwischen Pottbands und den Hamburgern organisiert (bei dem die Ruhrgebietler an die Wand gespielt werden). Nur wenige Gruppen kommen über den Status einer Amateurband hinaus. Am erfolgreichsten sind die German Blue Flames, die nach zweimaligem Gewinn des Bandwettbewerbs in der Vestlandhalle mehrfach in der Fernsehsendung „Beat-Club“ auftreten dürfen und zahlreiche Tonträger veröffentlichen.

Die Beatwelle ist im Ruhrgebiet außergewöhnlich mächtig. Man geht davon aus, dass die Hälfte aller 6.000 bundesdeutschen Beatbands hier entstand. All diese Bands wollen auf die Bühne. So werden überall Stadthallen wie das Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen, Hinterräume von Gaststätten, aber auch Kirchen in Beschlag genommen, oftmals werden sogar Beat-Gottesdienste für die Jugend abgehalten. Hans Schreiber vom Archiv für populäre Musik des Ruhrgebiets in Dortmund erzählt: „Um 1966 herum gab es nicht nur in den großen Städten, sondern in jeder Kleinstadt Beatbands, in jedem Dorf, und in jedem Gasthof. Das ging so lange gut, bis die Superbands wie Led Zeppelin oder Pink Floyd kamen, die man als normaler Mensch nicht mehr nachspielen konnte. Da brach die Szene zusammen.“

Wir fragen den Experten Hans Schreiber, wie es dann Ende der 60er Jahre dazu kommt, dass sich die Musiklandschaft im Ruhrgebiet weiterentwickelt und mit Krautrock, psychedelischem Folk, politischem Lied und Progrock neu belebt. Er hat eine klare Antwort: „Dafür waren die Jugendzentren entscheidend, weil sie nicht so stark mit kommerziellen Interessen verbunden waren wie die Gaststätten“, erklärt er. „In den Gaststätten mussten die Wirte ja immer darauf achten, dass genug Umsatz gemacht wurde. In den Jugendzentren galt das nicht. Dort gab es Jugendtreffs, Gitarren-Unterricht und Platz für Diskussionen und Experimente. Dadurch entstand dort auch eine Verbindung aus Musik und Politik.“ Als ein besonderes Beispiel nennt er uns das Jugendzentrum Papestraße in Essen. Wir brechen auf, um einen Eindruck zu gewinnen.

Cover des Magazins der Internationalen Essener Songtage, © afka.net

Essen/Witten


Im Essener Stadtteil Holsterhausen blicken wir auf ein himmelblau angestrichenes Flüchtlingsheim. Nur noch einige Graffiti-Flächen erinnern daran, dass an dieser Stelle in der Papestraße jahrzehntelang die Essener Subkultur ein Zuhause hatte.

1968, als die Beatwelle langsam ausläuft, befindet sich hier die konspirative Zentrale für das ‚deutsche Woodstock‘. Eine illustre Schar von Kulturaktivisten, darunter der Musikjournalist Rolf-Ulrich Kaiser, der Folkmusiker Bernd Witthüser, der Stadtjugendpfleger Horst Stein und der Leiter des Jugendzentrums Bernhard Graf von Schmettow organisieren die „Internationalen Essener Songtage“. Diese werden zum vielleicht wichtigsten Meilenstein auf dem Weg zu einer eigenständigen deutschen Rock-, Folk- und Songkultur. Denn sie verbinden internationale progressive Rockmusik von Frank Zappas Mothers of Invention, der sogar im Beirat der Veranstaltung sitzt, mit der neuen experimentellen Rockmusik aus Deutschland. Elf Monate vor Woodstock treten über 200 Acts vor gut 40.000 Zuschauern auf, darunter die Experimentalisten von Amon Düül und Tangerine Dream, Inga Rumpfs folkrockige City Preachers, die platten Agitationsrocker von Floh de Cologne, aber auch die politischen Liedermacher. Statt Liebe und Frieden stehen in Essen jedoch die politische Auseinandersetzung und die gesellschaftliche Rolle der Kunst im Vordergrund, Themen, die von nun an ein fester Bestandteil der Popgeschichte des Ruhrgebiets bleiben werden.

Der englische New-Wave-Musiker und Musikautor Julian Cope (The Teardrop Explodes) ist ein exzellenter Kenner der deutschen Avantgardemusikszene der siebziger Jahre. Sein Buch Krautrocksampler ist vergriffen. Es enthält einen Kanon der 50 wichtigsten Aufnahmen der kosmischen Musik und des Krautrock. In dieses Best of deutscher Experimentalmusik hat es auch das Album Trips + Träume des Essener Singer-Songwriterduos Witthüser & Westrupp geschafft. Den beiden Musikern ist eine 40-minütige Reise in eine drogeninspirierte Traumwelt gelungen, wie es sie sonst in der deutschen Musik nicht gegeben hat. Am besten zu vergleichen ist diese Musik mit den schottischen Freak-Folkmusikern von The Incredible String Band, die auch Witthüser & Westrupp als Inspirationsquelle dienten.

Walter Westrupp, bei dem wir sehr glücklich sind, dass er mit uns über den Sound des Ruhrgebiets sprechen mag, hat den größten Teil seines Lebens in Essen verbracht. Er stammt aus religiösem Haushalt und lernte frühzeitig, Trompete und Flügelhorn zu spielen, was er bald auch in einem Posaunenchor tat. Kirchliche Musik war der entscheidende Einfluss, was man später auch auf weiteren Alben wie Lieder von Nonnen, Toten und Vampiren, Jesuspilz, Bauer Plath und dem Livealbum Live 68-73 hören kann. „Schule, Lehre, die nächsten Schritte wären ein Job, eine Freundin, ein Kind und eine Bleibe gewesen. Nach der Lehre habe ich das aber alles weggelassen. Ich habe gesagt: Ich möchte meinen Weg gehen und arbeitete als DJ in Essen“, erzählt Walter Westrupp, den man getrost als einen der frühesten Hippies in Deutschland bezeichnen kann.

1967 lernt er Bernd Witthüser kennen, der damals schon den Ruf als Sänger des Ruhrgebiets hat. In Essen-Mitte treffen sie sich im Club Podium, wo sie beide als DJs engagiert sind. Damals war es noch sehr anspruchsvoll ein tägliches Programm mit Livemusik zu bestücken. Der Besitzer geht pleite, der Name wechselt zu Underground-Club. Insgesamt ist es eine Zeit, in der unkonventionelle Lebens- und Karrierewege noch kaum etabliert sind und die Hippies, gerade im Ruhrgebiet, im Stadtbild sofort auffallen. „Essen ist eine Großstadt, aber ein Zusammenschluss vieler kleiner Gemeinden“, sagt Westrupp. „In die City fahren Leute aus den Gemeinden zum Einkaufen. Wenn wir mit unseren langen Haaren Müttern begegneten, sagten sie zu ihren Kindern: Komm mal her, das sind Gammler.“ In Essen gehören Witthüser und Westrupp zu den ersten Gammlern oder Hippies, die sich öffentlich zeigen. „In Düsseldorf oder München wären wir hingegen überhaupt nicht aufgefallen“, glaubt er.

Zum Hippieleben der Zeit gehört das Wohnen in einer Kommune. Unten ist ein Plattenladen, von wo sie die wichtigsten Neuerscheinungen beziehen. „So kamen wir auf Crosby, Stills, Nash & Young, die Incredible String Band, Dr. Strangely Strange oder die Strawbs. Das war akustische Musik, die uns angetörnt hat. Wir setzten gezielt halluzinogene Drogen ein, vor allem LSD, und haben eine Möglichkeit gesehen, mit der Musik weiterzukommen“, erzählt er. Ein Thema wird vorgegeben, dann wird ein Tonband aufgenommen. Am Tag darauf hören sich die Musiker das Eingespielte in nüchternem Zustand noch einmal an.

Die Essener „Songtage“ im September 1968 werden für Westrupp zum großen Happening, auf dem er erstmals merkt, wie viele Gleichgesinnte es gibt. „Lauter bunte Leute waren unterwegs. Man sieht zum ersten Mal Leute auf demselben Level, die sind, wie man selbst. Man ist mit dem Gefühl nicht alleine, es gibt viele, die genauso empfinden“, erinnert er sich. „Ich habe das alles mit offenem Herzen aufgenommen. Es war wie ein Rausch; Leute, die sich nicht kannten, entwickelten ein Zusammengehörigkeitsgefühl.“

Einer der zentralen Macher als Mitorganisator der „Songtage“ ist der Musikjournalist Rolf-Ulrich Kaiser. Westrupps musikalischer Partner Bernd Witthüser, der 2017 bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist, kannte diesen schon von den Open-Air-Festivals in Burg Waldeck, wo sich seit 1964 die deutsche Songwriterszene traf. Nach einem Konzert, das Westrupp als schrecklich in Erinnerung hat, kommen Kaiser und seine Muse Gille Lettmann auf sie zu und bietet ihnen einen Plattenvertrag an. „Kaiser suchte nach Leuten, die auf Deutsch singen. Es gab damals eine Sehnsucht nach deutschen Texten, die nicht Schlager sind. Wir drückten Dinge, die wir fühlten, auf Deutsch aus“, sagt er. Der Produzent Dieter Dierks sei neben Kaiser ein weiterer wichtiger Einflussfaktor für seine Karriere gewesen. „Er war toll, weil er Dinge zuließ. Er und Conny Plank waren die einzigen, die sagten: Wir nehmen das auf, wie die Musiker es wollen. In normalen Studios zum Beispiel in München hieß es: Eine Gitarre ist eine Gitarre, ein Chor ist ein Chor“, sagt Westrupp.

Kaiser, der 1969 das Label „Ohr“ und später das Sublabel „Pilz“ gründet, hat, so Westrupp, musikalisch keinen Einfluss genommen. Er stößt die Künstler aber auf Dinge, die sie künstlerisch weiterbringen. Witthüser & Westrupp bringt er beispielsweise mit dem Guru John Allegor in der Schweiz zusammen. „Das inspirierte uns zu Trips + Träume mit der Idee, dass die Bibel ein Rauschgiftkult ist. Daraus entstand dann eine offene Rauschgiftoper. Wir spielten sie in Kirchen mit wundervoller Akustik und brachten junge Leute in Kirchen“, sagt Westrupp amüsiert. „Es war aber immer die Frage, wie weit man solche Themen wie Märchen noch treiben konnte.“ Die Ideen der musikalischen Pioniere des Krautrock, Psychedelic-Folk oder Progrock werden immer verrückter und unkontrollierbarer. „Ich bin froh, dass ich den Absprung geschafft habe“, sagt Westrupp. „Kaiser ist komplett abgedriftet. Er kam dann in ein betreutes Wohnen in einem Heim in Warstein. Er lebt wohl nicht mehr. Es ist schade, Kaiser war jemand, der Visionen hatte und versucht hat, sie umzusetzen. Er hat sich dann selbst überholt“. Westrupp hingegen tritt nach diesen intensiven Musik- und Lebenserfahrungen einen Schritt zurück. Später gründet er eine Skiffleband mit (humorvollen) deutschen Texten, mit der er bis heute auftritt.

Einer, der 1968 noch zu jung ist, um die „Internationalen Essener Songtage“ besuchen zu dürfen, obwohl er in Essen aufwächst und sich schon mit zwölf Jahren voller Leidenschaft der Musik verschreibt, ist der Songschreiber Stefan Stoppok. Wie kein zweiter im Land verbindet er berührende Songkleinode („Wetterprophet“) mit politischem Engagement („Feine Idee“), doppelbödigen Ruhrpott-Humor („Willie & Gerd“) mit deutschsprachigem Blues, Rock und irischem Folk. Songs wie das gospelige „Wenn Du weggehst“ oder das hymnische „Geh aufrecht“ wären in einer guten Welt Großhits. Auf mehreren Instrumentalalben hat er mit seiner Könnerschaft beeindruckt, zusammen mit der indischen Band You & I die südasiatische Musikkultur erkundet und auf zahlreichen Live-, Solo- und Duo-Platten mit seinem Bassisten Reggie Worthy durch Spielfreude und Lust zum Experiment begeistert. Wir treffen ihn vor einem Konzert in Bonn und erleben ihn als nachdenklichen und reflektierten Gesprächspartner. „Als mein Vater sehr früh starb, war ich so dermaßen down und am Arsch, dass mir meine Mutter, um mich zu trösten, eine Gitarre gekauft hat, die ich mir schon vorher lange gewünscht hatte, aber aus Geldmangel nicht bekommen konnte“, antwortet er auf unsere erste Frage nach seinen musikalischen Wurzeln und hängt an: „Erst vor zehn Jahren ist mir klargeworden, was diese Verknüpfung – bis heute – für eine unglaubliche Verantwortung dafür bedeutet, mit dem Instrument gefühlvoll und richtig umzugehen.“ Nach einer kurzen Denkpause fährt er fort: „Ich habe dann mit 12 eigentlich nur noch Gitarre gespielt, kaum noch etwas für die Schule gemacht. Dann mit 13/14 Jahren die ersten Bands gegründet.“ Wie klangen diese Bands, wollen wir wissen. Stoppok lacht: „Da habe ich letztens noch irre Aufnahmen aus dem Proberaum auf einem alten Grundig-Rekorder gefunden. Wir haben den absoluten Krautrock gespielt, keinen geraden Takt, alle acht Takte Taktwechsel. Alles auf der Suche nach einer eigenen musikalischen Identität.“ Hilfreich bei dieser Suche ist Stoppoks vier Jahre älterer Bruder, der ihn zu einem BFBS-Radiohörer macht und dadurch auf die englischen Folkmusiker stößt. Hilfreich ist auch, dass es in der Region Leute wie Tom Schröder gibt, der Mitinitiator der „Songtage“ ist und die Folkbewegung im Ruhrgebiet vorantreibt.

Vor allem aber gibt es in Witten Hildegard Doebner. „Die war bereits 40 Jahre, für uns damals undenkbar alt, Witwe. So eine richtige Folkmama. Sie hatte in Witten ein halbes Haus geerbt, dort konnte man spielen und sich austauschen, auch weil sie den Dachboden ausgebaut hatte, so dass dort alle pennen konnten“, sagt Stoppok. Dieses Haus macht Doebner 1974 zusammen mit anderen zum „Folkclub Witten“. Er wird binnen kurzer Zeit und für viele Jahre zum entscheidenden Szene-Treff für die aufstrebende Folkszene im Ruhrgebiet. Hier treten Lydie Auvray, Liederjan, Julian Dawson, Hannes Wader, Hanns Dieter Hüsch, Jürgen von der Lippe und Herbert Grönemeyer (damals ca. 17 Jahre alt) auf. Zudem werden Open-Air-Veranstaltungen auf die Beine gestellt. „Witten ist von Essen vielleicht 25 Kilometer entfernt, aber als ich aufwuchs, wusste ich gar nicht, dass es die Stadt gibt“, erinnert Stoppok schmunzelnd. „So nah von meinem Wohnort auf einmal eine ganz neue Szene zu entdecken, die europaweit einer der Mittelpunkte der Folkbewegung war. Das war der absolute Hammer.“ Für seine musikalische Biographie wird der Folkclub entscheidend. „Eddie und Finbar Furey, das waren die ersten, die Ende der 60er/Anfang der 70er irische Folkmusik nach Deutschland gebracht haben. Mit denen habe ich bei Hildegard in der Küche Sessions gespielt. Und dort im Folkclub habe ich auch das Entertainmentmäßige kennengelernt, das Unterhalten der Leute“, erläutert Stoppok. Es folgen Wanderjahre mit viel Straßenmusik. „Und über den Folkclub und seine Verbindungen bin ich dann an Ex-Steeleye Span-Schlagzeuger Nigel Pegrum herangekommen, mit dem dann die Stender Band entstand.“ Unter diesem Bandnamen erscheint 1980 Stoppoks erstes Album, das den Startpunkt einer mittlerweile bald 40-jährigen Karriere bildet.

Zum Abschluss unseres Gesprächs fragen wir ihn, ob er unter all den Künstler*innen, die er im Ruhrgebiet erlebt hat, irgendwelche Gemeinsamkeiten sieht. Er verneint: „Die waren schon alle, biografisch und künstlerisch, immer sehr unterschiedlich. Grönemeyer beispielsweise, der im gleichen Alter ist, kam aus einer alteingesessenen Ruhrgebietsfamilie rund um das Bochumer Schauspielhaus, intellektuell gehobenes Bürgertum. Meine Eltern hingegen waren Flüchtlinge und ich gehörte zu den vielen, die sich erst einmal irgendwo andocken mussten. Dadurch war ich lange in diesem ganzen Gewaber nicht so richtig heimisch.“ War das ein Vorteil oder ein Nachteil? „Vermutlich beides“, antwortet Stoppok nachdenklich. „Ich bin ja einer der wenigen von den vielen Künstlern aus Arbeiterfamilien oder Flüchtlingsfamilien im Ruhrgebiet, die es geschafft haben. Weil es so wenig gab, hat mir immer das Selbstverständnis oder das Selbstbewusstsein gefehlt, die Ruhrgebietsherkunft nach außen so richtig stark darzustellen. Eigentlich hat man sich im Ruhrgebiet generell meist immer eher klein gefühlt. Was aber am Ende den Vorteil hatte, dass sich was Echtes entwickeln konnte und man nicht frühzeitig irgendeinem Hype hinterhergelaufen ist.“

Als Hildegard Doebner Mitte der 90er Jahre erkrankt, fehlt der Szene ihre treibende Kraft und die Aktivitäten versanden weitgehend. Stoppok, aber auch viele andere die in Doebners Folkclub ihre ersten Schritte machten, sind da längst zu prägenden Künstler*innen des Landes geworden.

Witten aber bleibt eine Brutstätte musikalischer Innovation, wenn auch in einem anderen Genre. Als Dike Uchegbu (alias DIKE) Mitte der 90er Jahre einen Proberaum in einem alten Bunker im Stadtteil Annen mietet, ist das der Beginn der „Bunkerwelt Witten“. Hier finden Hip Hop-Parties und Jam Sessions statt. Die Rapper Flipstar und Lakmann bilden das Duo Creutzfeld & Jakob, deren Debütalbum Gottes Werk und Creutzfelds Beitrag ein beachtlicher Chartserfolg wird. Mit dem Track „Bunkerwelt in Witten“ haben sie der Szene ein Denkmal gesetzt. Als Produzent fungiert übrigens Till Grönemeyer, der Neffe des Bochumer Sängers. Und selbst nachdem die Crews aufgrund steigernder Mieten aus dem Bunker herausgentrifiziert werden, bleibt Witten eine Hip-Hop-Hochburg. Vor allem Lakman hält mit seiner Formation Witten Untouchables die Fahne der Stadt hoch.

Witten ist so ein Bestandteil der äußerst vielfältigen Hip Hop Szene im Ruhrgebiet, die vom Battle Rap des Labels „Ruhrpott Elite“ bis zum Spaß-Hip-Hop der 257er reicht. In keinem anderem Genre werden die Lebenserfahrungen der vielen Menschen mit Migrationshintergrund im Ruhrgebiet so sichtbar wie im Rap und Hip Hop und sicher gehört er auch deshalb zu den angesagtesten Stilen in den Clubs der Region. Grenzüberschreitungen gehören im Hip Hop zur Tagesordnung. Antisemitischen Ausfälle der Rapper Fard und Snaga oder die kriminellen Machenschaften von Hamad 45 sind allerdings schwer auszublenden. Kommerziell ist der Hip Hop aus dem Ruhrgebiet dennoch deutschlandweit erfolgreich. Fard aus Gladbeck und Snaga aus Essen ebenso wie KC Rebell erreichten in den vergangenen Jahren hohe Chartsplatzierungen. Wir werden in Dortmund noch einmal auf den Hip Hop zurückkommen. Jetzt aber wollen wir zunächst noch ein wenig in den 70er Jahren bleiben. Uns interessiert, wie eine der kleineren Städte des Ruhrgebiets zu einem der Hotspots der deutschsprachigen New Wave werden konnte.

Hagen

„Komm, komm, komm, komm, komm nach Hagen, werde Popstar, mach dein Glück!“. Diese Zeilen von Extrabreit hören wir über die Kopfhörer aus unserer Playlist [LINK], während wir gerade einmal zehn Minuten von Witten nach Hagen benötigen. Der Song findet sich auf dem 1982 erschienenen Sampler Alles aus Hagen. Dieser versammelt in einer eklektischen Mischung 16 Hagener Bands, darunter die experimentelle Rock-Kombo KeinMensch!, die von John Peel geschätzte NDW Band X-Quadrat, aber auch Eroc alias Joachim Heinz Ehrig. Letzter ist – ja was eigentlich alles? Komponist und erfolgreicher Solokünstler (Wolkenreise), Musikkollaborateur (u.a. des Wuppertaler Experimentalgitarristen Hans Reichel), Musikproduzent und Studiobetreiber, schließlich seit Ende der 90er Jahre geschätzter Experte für das Remastering alter Audioschätze von Johnny Cash über Procol Harum bis Genesis. Mehr 1.000 deutsche, über 800 internationale Produktionen, zahllose eigene Alben, eineinhalbtausend Konzerte und über 60 Livealben umfasst die beeindruckende Vita des Hageners. Darüber hinaus und vor allem ist er bis 1983 der Drummer der progressiven Hagener Rockband Grobschnitt. Deren ausufernde Stücke zwischen Krautrock, psychedelischer Improvisation, deutschsprachigem Prog und Rocktheater setzen die Ruhrgebietsstadt Hagen auf die internationale Poplandkarte. Die Alben Rockpommel’s Land und Solar Music – Live gelten als Klassiker. Ende der 70er Jahre schlagen sie die Brücke zwischen experimenteller Avantgarde und Breitenwirksamkeit der deutschen Rockmusik. Die Liveauftritte der Band sind legendär als wilde Mischung aus politischer Parodie und deftiger Comedy, aus theatralen Inszenierungen und überkandidelten Bühnenkostümen.

Eroc, den wir spät abends am Telefon erreichen – er kommt gerade aus dem Studio – hat seine Wurzeln, wie so viele, im Rock’n‘Roll und Beat. „Bevor ich nach Hagen gezogen bin, hab‘ ich in Oberhausen gewohnt. Eine Ecke weiter war eine Kneipe, und da war jeden Samstagabend Livemusik. Das war so um 1958 herum. Da standen auch unheimlich viele Motorroller davor. Wir Kleinen durften da natürlich nicht rein, aber ich bin da rumgeschlichen und hab dann mal gehört, was sich da drin abspielte“, erzählt Eroc als wir ihn nach seinen ersten Musikerfahrungen fragen. „1961 kam ich nach Hagen. So nach und nach, um 1962/1963, kamen dann die ersten Imitationsversuche der Vorbilder auf. Der eine hatte dann eine Elektrogitarre und brachte die mal mit in die Schule, der andere hatte einen Bekannten, der schon mal ein Schlagzeug gesehen hatte…“ Auch Eroc gründet eine Band. The Crew werden Teil der Hagener Beatszene. „Da gab es einen ganz harten Konkurrenzkampf zwischen den Bands. Damals konntest Du ja nicht einfach spielen, was Du wolltest, sondern Du musstest die Charts nachspielen. Und wer die am besten spielen konnte, der war angesagt. Dazu gehörte natürlich ein ungeheurer Fleiß. Man musste sich alles total präzise draufschaffen“, erinnert sich Eroc. „In den 60ern musste man eben besser sein als alle anderen. Die Bands waren ja auch nicht alle gleich. Wir waren so ein bisschen mehr die Wilden, die Ur-Punker oder sowas. Andere spielten im Anzug mit Fliege und Schlips zu Tanzabenden. Es durchaus auch so, dass in verschiedenen Stadtvierteln einzelne Bands oder Gangs regierten.“

Im Laufe der 60er Jahre entsteht in Hagen eine rege Liveband-Szene. Besondere Bedeutung hat erneut das örtliche Jugendzentrum – in Hagen mit dem Namen „Kultopia“. Auch die Ereignisse in Essen und die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der 1968er bleiben in Hagen nicht ohne Widerhall. „Der Break zu völlig eigenen Sachen kam Anfang 1969“, erzählt Eroc. „Das ging einher mit den Essener ‚Songtagen‘. Da waren wir natürlich alle in der Grugahalle, es gingen die Joints rum und da spielten die Bands sich selbst. Da hat’s bei uns geknackt. Wir haben The Crew aufgelöst und etwas später entstand Grobschnitt mit der Vorgabe, wir machen jetzt unseren eigenen Stiefel.“ Die Form dieses eigenen Stiefels hängt, so Eroc, stark mit der regionalen Lage Hagens, dem Ruhrgebietsselbstverständnis und den daraus entstehenden kreativen Spannungen zusammen: „Hagen liegt im Tal. Nach Süden hin sind nur Wälder, da wohnt der Hirsch. Nach Dortmund ist auch noch eine Bergkette dazwischen, da muss man schon klettern oder ein Auto haben, das hatten wir damals nicht. Neue Musik kam nur über das Radio herein, war also international. Wenn andere Bands in Münster oder Duisburg existierten, davon haben wir nicht viel gehört. Wir haben uns auf uns konzentriert“. Und dann berichtet er lachend, wie sich die kreative Spannung entfaltete: „Du musst den Hagener mal so sehen: raue Schale, kein Kern. Das war immer die Mentalität. Alle für alle, alle gegen einen. Bei uns verging keine Woche, wo nicht einer gesagt hat: ‚Passt auf, ihr Arschlöcher, ich hab‘ die Schnauze voll, ich hau jetzt in‘ Sack. Ihr seht mich nie wieder.‘ Gitarre gepackt, Verstärker gepackt, weg. Die Band hat sich so oft aufgelöst, das kann sich keiner vorstellen. Jeder ist mindestens 15mal im Jahr ausgestiegen. Und drei Tage später stand er wieder im Übungsraum: ‚Tach, Jungs! Bin wieder da. Lass uns mal reden.‘ Verstehst Du? Das Essen kocht, es spritzt an die Wände des Topfes, aber es fällt wieder in den Topf zurück.“

Das Debütalbum von Grobschnitt entsteht zusammen mit dem Produzenten Conny Plank [LINK]. Eroc kann neben den Drums bei Grobschnitt seine Liebe für die Tontechnik ausleben. Er schneidet die zahllosen Konzerte mit, die die Band in immer größeren Kreisen aus dem Hagener Tal führen, und erfindet beständig ungewöhnliche Soundeffekte. So scheint es wie ein logischer Schritt, dass Eroc das Equipment über kurz oder lang in ein Aufnahmestudio überführt. Zusammen mit Siggi Bemm eröffnet er zunächst in Dortmund das Woodhouse Studio, später zurück in Hagen die 800 m² großen Woodhouse Studios. Bemm wird durch seine Metal- Gothic-und Rock-Produktionen zu einer Studio-Legende. Eroc feiert Erfolge mit seinen Solowerken und (bis zu seinem Ausstieg 1983) mit Grobschnitt und etabliert sich als Produzent. Einer der ersten Triumphe der Studios ist die Hagener Indie-Band Die erste weibliche Fleischergesellin nach 1945. Als deren zurückhaltender Gitarrist Ernst Ulrich Figgen den „Voodooclub“ gründet und sich Philip Boa nennt, wird Eroc Hausproduzent, Tonmeister und Musiker.

Grobschnitt und Eroc sind die ersten. Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre wird Hagen, so unwahrscheinlich es klingt, zu einem Zentrum der deutschen Popmusik.

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„Früher waren wir der Klassenfeind und die bösen Jungs, dann waren wir die Idioten und heute sind wir Kulturgut“, sagt Stefan Kleinkrieg laut lachend. Wir sitzen mit ihm im Backstageraum der Hagener Stadthalle. Es ist ein passender Ort. Als diese 1981 eröffnet wird, ist Stefan Kleinkriegs Band Extrabreit gerade auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs. Titelseiten auf der BRAVO-Jugendzeitschrift, ausverkaufte Konzerte und ein sorgsam gepflegtes ‚Bad-Boy-Image‘ machen sie zur erfolgreichsten deutschen Punk- und New Wave-Bands des Jahres. Die Songs „Hurra Hurra, die Schule brennt“, „Die Polizisten“ und das Hans Albers Cover „Flieger, grüß mir die Sonne“ sind Hits. Ein Gig einer lauten Punkrock-Band in der bürgerlichen Stadthalle damals? Undenkbar. Heute spielen sie hier ein gefeiertes Heimspiel und man merkt Stefan Kleinkrieg an, wie sehr er sich über diesen Triumph über die Spießer, aber noch mehr über die Zuneigung des Publikums nach fast 40-Jahren Bandgeschichte freut. Eine halbe Stunde hat er Zeit, uns zu erklären, wie Hagen Anfang der 80er Jahre zum Zentrum der Neuen Deutschen Welle werden konnte.

Für sich persönlich sieht er die am Ende der 70er Jahre aus England herüberschwappende Punk-Bewegung als entscheidend an. „1978 hattest Du als Jugendlicher zwei Möglichkeiten: Du gingst in den Fußballverein, das haben die meisten gemacht, oder Du gründetest eine Band“, berichtet Kleinkrieg. „Ich war bei der Bundeswehr und dort lief BFBS – und plötzlich die Sex Pistols! Von da an war alles andere langweilig. Das war die Initialzündung, auch den Mut zu haben, sich ein Instrument anzuschaffen, einen Verstärker zu kaufen, einen Proberaum zu suchen, sich jeden Abend zu treffen und eine Band zu gründen.“ Der Punk stößt in Hagen, ganz ähnlich wie in Städten in der ganzen Welt, einen Schub von kreativen Spinnereien und alternativen Lebensideen an. „Es war auf einmal leicht, Leute zu finden, weil sich eine Szene bildete“, erinnert er und beschreibt, wie das so vor sich ging: „Ich hatte einen Freund, den habe ich überredet, Schlagzeug zu spielen. Dann haben wir uns ein Kit gekauft, einen Übungsraum angemietet, dann kam einer nach dem anderen hinzu– ‚Du bist jetzt unser Bassist‘ – ‚Ich kann das doch gar nicht!‘ – ‚Ja, wir doch auch nicht‘. Und dann war das eine Band.“ Die Musik soll irgendwas zwischen Rock und Punk sein und bloß nicht wie die vielen Coverbands in der Region klingen. Kleinkrieg sagt: „Für uns war klar: Es musste auf Deutsch sein, keine Songs länger als drei Minuten, bloß nicht zu bluesig und bloß nicht Grobschnitt. Die waren mit ihren Nebelschwaden ein Feindbild für uns“, und er ergänzt laut auflachend: „Es ist doch so: Wenn Du gar nichts kannst, dann brauchst Du jemanden, der was kann, damit Du sagen kannst: Ja, das ist doch total Scheiße... was WIR machen ist gut...“

Sicher gibt es mehrere Gründe, warum Hagen in diesen Jahren zu einem Zentrum der deutschen Punk- und New Wave wird. Einer ist, dass die Kleinstadt faszinierende Allianzen möglich macht. Als klassische One-Disco-Town – also „eine Stadt, in der immer nur eine Disco voll ist und alle anderen leer“, wie Stefan Kleinkrieg sagt, trifft man sich unvermeidlich abends auf der Tanzfläche oder auch an der Theke. Dadurch entstehen Kollaborationen.

Beispielsweise gründet sich die Proto-Punk-Band The Ramblers. Auf ihrem Debüt The Kids are back to Rock’n‘Roll spielt Frank Becking die Gitarre, es singt der heutige Vorstandschef der größten deutschen Plattenfirma BMG Hartwig Masuch. Beide gründen zusammen das Studio Rock-Ranch, wo sie das immens erfolgreiche Debütalbum von Extrabreit aufnehmen. Zweiter Gitarrist der Ramblers ist Carlo Karges, der später einen der größten deutschsprachigen Hits aller Zeiten texten wird: Nenas „99 Luftballons“. Apropos Nena: Gabriele Susanne Kerner, so ihr bürgerlicher Name, absolviert in diesen Jahren in Hagen eine Goldschmiedelehre und verbringt die Nächte in der Diskothek Madison. Hier entdeckt sie der Ramblers-Roadie Rainer Kitzmann und macht sie zur Frontfrau seiner Band The Stripes, die die Keimzelle der Nena Band bildet.

Die Dichte kreativer Menschen in der Region in diesen Jahren ist außerordentlich. Nicht nur in Hagen selbst, wo beispielsweise auch die Schwestern Anette und Inga Humpe ihre Musikliebe entdecken (bevor sie mit den Neonbabies und Ideal die Berliner Musikszene aufmischen). Sondern auch zwölf Kilometer entfernt in Gevelsberg-Silschede. Hier existiert seit Ende der 70er eine Wohngemeinschaft im Gasthof Grün In, die das große Bauernhaus in ein Ausflugslokal für alternative Künstler*innen aller Art verwandelt hat. Bewohner der Kommune sind die DAF-Musiker Wolfgang Spelmanns, Kurt Dahlke und Schlagzeuger Robert Görl, aber auch Michael Kemner, später bei den Fehlfarben und bei Mau Mau. Im Grün In nehmen S.Y.P.H. – mit Ralf Dörper an der Gitarre [LINK]– erste Demos auf, hier entstehen 1979 das erste DAF Album und das Debüt von (Mona Lisas) Materialschlacht Kinderfreundlich. Die Hagener gucken regelmäßig vorbei und sich einiges ab.

Nukleus für die Hagener Szene selbst wird der Stadtteil Wehringhausen. Rund um den Wilhelmsplatz sammelt sich die Subkultur in Kneipen und Discos. Stefan Kleinkrieg erzählt: „Sonntagsabends kamen die ganzen Bands von ihren Wochenend-Gigs zurück, man traf sich in der Kneipe Bei Rainer und tauschte sich aus. Was haben die für eine Gitarre und Instrumente, wie spielen die das, jetzt kaufen wir uns die gleiche Anlage... daraus entstand dann eine Art von Hagen-Sound.“ Keine 500 Meter vom Wilhelmsplatz entfernt liegt die Wohngemeinschaft B56. Im Flur begrüßt ein großes Wandgraffiti mit dem Spruch: „B56 – Immer radikal. Nie konsequent“. In der 7-Zimmer-Wohnung wohnen als ‚Stamm-Besatzung‘ unter anderem die Musiklehrerin und Musikerin Gabi Lappen (deren Band Kein Mensch! als erste Hagener Band 1981 von John Peel auf BFBS gespielt wird), der Performance-Künstler Wolfgang Luther, der Grafiker, Taxifahrer und spätere Frontmann von Extrabreit Kay Schlasse alias Kai Havaii und Jörg Hoppe. Er wird der erste Extrabreit-Manager, vor allem aber Gründer des Punk- und New Wave Labels Tonträger 58, benannt nach der damaligen Hagener Postleitzahl. Hier erscheinen die zentralen frühen Tonträger aus der sich bildenden Hagener Szene.

Spätestens als The Stripes mit der aufregenden Nena in TV-Shows auftreten und kurz danach Extrabreit mit ihrem Debütalbum Ihre größten Erfolge der Durchbruch gelingt, entsteht ein Hype um das NDW-Zentrum Hagen, der zum Teil kuriose Züge annimmt: „Ich erinnere mich an ein Erlebnis: Am Hauptbahnhof gab es eine Kneipe, die wir häufig frequentierten, die Kronenburg. Da saß ich nachmittags mit einem Bier und plötzlich kam einer mit einem Bass-Koffer herein und fragte: ‚Wo ist denn hier die Szene?‘ Der war gerade mit dem Zug angekommen“, erzählt Stefan Kleinkrieg amüsiert. „Durch den Erfolg von uns, Nena und anderen, ist ein riesiger Fokus hier auf die Gegend gefallen, so dass Leute dachten: Ich gehe jetzt dahin. Und dann wurde alles, was als Übungsraum zu vermieten war, in Beschlag genommen, Bands sprossen aus dem Boden.“

Von Hagen aus verbreitet sich die Neue Deutsche Welle über das ganze Ruhrgebiet. In Wanne-Eickel – seit 1975 Teil von Herne und bürokratisch herabgewürdigt als „Herne 2“ entstehen beispielsweise die Platten von Die Vorgruppe. Sie mischen Post-Punk und New Wave zu einer erstaunlichen Kollage. Herne 3 thematisieren das Arbeiterdasein im Kohlenpott mit ihren Singles „Immer wieder aufstehen“ und „Wieder kein Geld“. In Dortmund kollaborieren die Mitglieder der Latin Band Crossfire mit den Punks von 451. Unter dem Namen Konec wird Latin-Reggae-Funk daraus, mit „Tanze“ gelingt ein kleiner Hit.

Faszinierend sind auch die Entwicklungen in Gelsenkirchen. Hier, wo es mit der ursprünglich Wittener Band Franz K. bereits seit Anfang der 70er eine Band gibt, die als eine der ersten auf deutschsprachige Songtexte setzte, verbinden sich Musik und Kunst. Zentrale Figur dafür ist Jürgen Kramer. Als Meisterschüler bei Joseph Beuys an der Kunstakademie Düsseldorf kommt er aus der Kunst, präsentiert bereits 1978 in Wuppertal seine erste Ausstellung im Umfeld der dortigen Art-Punk-Szene um Frank Fenstermacher (Der Plan, Fehlfarben) und Moritz Reichelt (Der Plan) und schafft eine Verbindungslinie vom Düsseldorfer Ratinger Hof [LINK] nach Gelsenkirchen. Beispielsweise gibt er die punk-infizierte Zeitschrift Die 80er und Jahrbücher unter dem Titel Der Rabe heraus. Kramer wird Kern eines Netzwerks von Art-Punk-infizierten Künstler*innen und Bands in Gelsenkirchen. Darunter ist das 1976 gegründete Kabarett Küchentheater aus dem Die Salinos entstehen. Sie mischen New-Wave-Pop mit quietschendem Frauenchor, ihr 1981 veröffentlichtes Album Du siehst nicht aus wie ich ausseh gehört zu den interessantesten deutschen Alben dieser Jahre.

Wie jeder Rausch ist aber die New Wave bzw. Neue Deutsche Welle im Ruhrgebiet nicht nachhaltig. Auch in Hagen trocknet die NDW-Bewegung binnen kurzer Zeit aus. Auch, weil es die meisten Szene-Mitglieder nach Berlin zieht. Die Hagener Pioniere Extrabreit müssen kommerzielle Rückschläge einstecken, die zu längeren Bandpausen und Neuerfindungen mit englischsprachigen Alben führen. Für Stefan Kleinkrieg ein letztlich normaler Vorgang, der dennoch schmerzt: „Für mich war eigentlich der größte Frust, dass dieser gute Rhythmus Tour – Platte – Tour – Platte aufhörte als die Neue Deutsche Welle ans Ende kam“, sagt er. „Ich hätte wie Lemmy bis ans Ende meiner Tage unterwegs sein können. Drei Monate zuhause und dann wieder los“, sagt er und blickt ungeduldig auf die Uhr. Gleich darf er auf die Bühne.

Bochum

Die Aufmerksamkeit, die die Neue Deutsche Welle auf die Kohlenpottstädte Hagen, Gelsenkirchen oder Herne gelenkt hat, ist nur der Anfang. Die 80er Jahre werden insgesamt zum Jahrzehnt des Ruhrgebiets. Es sind politisch bewegte Zeiten: In Rheinhausen streiken monatelang die Kumpels aus Duisburg für den Erhalt ihres Stahlwerks, blockieren Brücken und Autobahnen. Der Kampf gegen Krupp wird zum Symbol des Strukturwandels im Ruhrgebiet. Medial macht Theo Gromberg, ein vom Düsseldorfer Musiker Marius Müller Westernhagen [LINK] gespielter Lastwagenfahrer aus Herne, den Anfang. Den Film Theo gegen den Rest der Welt sehen über drei Millionen Zuschauer im Kino. Im gleichen Jahr beginnt der schnodderschnauzige Tatort-Kommissar Horst Schimanski seinen Dienst in Duisburg. Günter Wallraffs Buch Ganz unten wird 1985 veröffentlicht und prägt das Bild, das die Bundesrepublik von den Gastarbeitern hat. Wie es so mit dem Zeitgeist ist: Er dreht und wendet sich und lässt – in den Gel-frisierten, Superstar-verseuchten, augenblendend bunt gekleideten 80ern - plötzlich das Ruhrgebiet cool, authentisch und bodenständig wirken. Als ‚Gegengift‘ gegen den künstlichen Pop von Madonna, Michael Jackson oder Kylie Minogue erlebt der harte Rock ein Revival. Und nirgends ist dieser so vielfältig und angesagt wie im Kohlenpott.

Ab Anfang der 80er Jahre entstehen in der ganzen Region Bands, Fanzines, Plattenläden, über kurz oder lang auch Labels, Agenturen und Magazine, die Hardrock und Metal in all ihren zahllosen Variationen vertreten. Es geschieht ganz Ähnliches wie bereits in den 50er und 60er Jahren, nur diesmal mit lauteren Gitarren, längeren Kutten und wütenderen Texten. Regten damals Bill Haley und die Beatles in der Grugahalle eine vormals ungekannte Lust auf eigenes Musizieren an, inspiriert jetzt das Festival „Rock Pop in Concert“ 1983 in der Dortmunder Westfalenhalle. Iron Maiden und Ozzy Osborne beeindrucken die Fans. Insbesondere die englischen Judas Priest werden zur Referenz, an deren Nachspielen sich viele der neugegründeten Bands schulen.

Man kann die Details dieser einzigartigen Erfolgsgeschichte in den zwei hervorragend recherchierten Bänden von Kumpels in Kutten. Heavy Metal im Ruhrgebiet nachlesen. In den hier versammelten Interviews mit Mitgliedern ehemaliger und aktueller Metalbands wird einmal mehr deutlich, welche Rolle im Ruhrgebiet die Jugendzentren spielen. Außerdem ist das Ruhrgebiet das ‚Mutterland‘ der Soziokultur. Als selbstverwaltete Kommunikationszentren und Kulturläden der ‚Alternativkultur‘ und ‚Gegenöffentlichkeit‘ sind sie schon seit den 70er Jahren Experimentierorte der Subkultur. Einrichtungen wie das Autonome Zentrum und der Ringlokschuppen in Mülheim, das Eschhaus in Duisburg, das Druckluft und das Zentrum Altenberg in Oberhausen, die Lindenbrauerei in Unna oder das Kulturzentrum Grend sind unverzichtbar zum Verständnis der musikalischen Lebendigkeit im Ruhrgebiet.

Anfang der 80er Jahre erwächst in diesen Zentren eine Hard-Rock- und Metalszene, die in einer solchen Vielfalt nirgends sonst in Europa zu finden ist. Dabei helfen die Magazine Rock Hard und Metal Hammer, die ihre Redaktionen in Dortmund haben. Von Bochum aus vertreten Steeler die Hard Rock-Fraktion. Klassischen Heavy-Metal spielen Centaur in Duisburg und Custard in Herne. Die Dortmunder Axxis prägen ab 1989 den Power-Metal und gehen mit den Ikonen von Black Sabbath auf Tour. In Krefeld entsteht Mitte der 80er aus Lucifer’s Heritage die Band Blind Guardian. Sie mischt Speed Metal mit literarisch-poetischen Texte und verarbeitet Einflüsse aus der Bay-Area, dem Progressive Rock und zum Teil sogar dem Folk. Mit ihrem dritten Album Tales from the Twilight World, das in knapp 30 Minuten durch zehn Kracher und mindestens ebenso viele Stile rast, werden sie zu Weltstars. Und ganz im Norden Essens, rund um das ehemalige Steinkohlen-Bergwerk Zeche Carl, finden die Thrash-Metaller von Kreator ihre Heimstatt. Von hier aus steigen sie ab 1982 in die Riege der international bekanntesten Bands aus Deutschland auf, spielen weltweit bis heute vor zehntausenden Fans und stoßen Subgenres wie Death-Metal oder den skandinavischen Black Metal an. Ihr Debütalbum Pleasure to Kill zählen viele Fans und Kritiker zu den bedeutendsten Metal-Alben aller Zeiten. Im Kreator-Umfeld der Zeche Carl entwickelt sich auch die ursprünglich Gelsenkirchener Thrash-Metal-Band Sodom, die mit provokanten Texten und extrem harten Gitarrenriffs gewaltige Erfolge feiert. Mehr als 8 Millionen Tonträger verkaufen sie weltweit.

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In Deutschland aber wird ein Sänger aus Bochum zum erfolgreichsten Künstler. Herbert Grönemeyer, der in Witten als Folkmusiker reüssierte und Teil der Theaterszene des Bochumer Schauspielhauses ist, öffnet seine deutschsprachige Singer-Songwriter-Musik den poppigen Synthesizer-Klängen der NDW und veröffentlicht 1984 das Album 4630 Bochum. Mit 2.5 Millionen verkauften Exemplaren gehört dieses zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Alben überhaupt. Grönemeyer sorgt, zusammen mit der Hausbesetzer-Band Geier Sturzflug um den heutigen Radiomacher Klaus Fiehe herum, dafür, dass Bochum im tiefsten Herzen des Ruhrgebiets Mitte der 80er Jahre zum Zentrum der Popmusik im Pott wird. Sie übernimmt den Staffelstab von Hagen und führt die subkulturell orientierten Punk- und New Wave-Ansätze der Neuen Deutschen Welle zu erstaunlichen kommerziellen Erfolgen.

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Ein prägender Ort für die Bochumer Musikszene in dieser Zeit ist die Zeche Bochum. Eröffnet 1981 in der ehemaligen Schlosserei der Zeche Prinz Regent im Bochumer Süden wird sie zu einem Veranstaltungszentrum für Konzerte und Parties und damit zu einem Prototyp für die Umgestaltung ehemaliger Industriebauten zu Kulturzentren. Anfänglich treten hier subkulturelle Undergroundbands auf. Da sich die Location aber wirtschaftlich tragen muss, öffnet sie sich dem Mainstream. Ab Mitte der 80er Jahre wird die kleine, knapp 1.000 Zuschauer fassende Halle zu einem aufregenden Liveclub. Auch weil der WDR Rockpalast hier Konzerte aufzeichnet, treten einzigartige Bands und Künstler*innen auf, Echo & The Bunnymen, R.E.M., Tina Turner, Chris Rea, Simply Red um nur einige zu nennen, sowie nahezu allen deutschsprachigen Größen.

Die Zeche macht mit ihren Parties Bochum aber auch zu einer überregional bekannten Party-Stadt. Als Herbert Grönemeyer 1984 seiner Heimatstadt die Hymne „Bochum“ schreibt, textet er: „Du hast‘n Pulsschlag aus Stahl, man hört ihn laut in der Nacht. Du bist einfach zu bescheiden“ und konstatiert: „Bochum, Du bist keine Weltstadt.“ Das ist zwar kokett, aber ebenfalls zu bescheiden, denn laut in der Nacht und europaweit gehört schlagen auch die Beats der Bochumer Discotheken. So im Tarm Center im Industriegelände der Rombacher Hütte. Mit den heutigen Star-DJs ATB und Caba Kroll als Residents wird das Tarm ab 1986 zu einem Vorbild für die Club-Kultur in ganz Europa. Innovative Laserlicht- und Schalltechnik, mehrere Floors, diverse Bars, ein integriertes Restaurant und ein riesiger Außenbereich mit Swimmingpool setzen Maßstäbe. Ab 1992 lassen sich im Planet Bochum Legenden des Detroit-Techno wie Juan Atkins hinter den Turntables erleben, dazu sind Stars des Großraumtechnos wie Sven Väth oder Westbam häufige Gäste. Auch als Adresse für Hip Hop, Acid-Jazz und Trip-Hop macht sich der Planet einen Namen. Bochum wird durch diese Clubs, aber auch durch den unerwarteten und gewaltigen Erfolg des 1984 gestarteten Musicals „Starlight Express“ zu der Ausgehmetropole im Ruhrgebiet.

Heute stürmen jedes Wochenende zehntausende Feierwütige aus der gesamten Region die Bochumer Innenstadt. Noch mehr sind es, wenn einmal jährlich „Bochum Total“ das größte Umsonst-Musikfestival Europas, rund 500.000 Zuschauer zu Konzerten, Parties und Aufführungen lockt. Herzkammer des Bochumer Nachtlebens ist das Bermuda3Eck rund um den Konrad-Adenauer-Platz. Schicke Clubs, hippe Bars und Kinos finden sich auf engem Raum, die Hochkultur mit dem Schauspielhaus Bochum oder dem Musikforum ist nicht weit.

Starlight Express Schauspieler, © Mehr-BB Entertainment GmbH

Es ist Mittwoch am frühen Abend, als wir durch das Treiben des Berumda3Ecks stromern. Wir sind auf dem Weg ins Riff, wo allwöchentlich die „New York Nights“ veranstaltet werden. Verabredet sind wir hier mit Pamela Falcon und ihrem Manager und ‚Partner-in-crime‘ Al Falcon. Hinter der dicken Eingangstür brummen die Bässe des Soundchecks. Nach einigem Klopfen werden wir hereingelassen. Mit breitem Lächeln und amerikanischer Herzlichkeit begrüßt uns Pamela Falcon und führt uns in den Backstage-Bereich. Sie kennt jeden Zentimeter der Räumlichkeiten. Seit unfassbaren 943 Shows und bald 20 Jahren spielt sie mit ihrer Band hier an jedem Mittwoch ein Potpourri aus Pop-, Funk- und Rockklassikern und eigenen Songs. Bevor es losgeht, dürfen sich die Zuschauer an einem Büffet laben, während der Show präsentiert ihnen die Entertainerin etablierte Künstler*innen und vielversprechende Newcomer als besondere Gäste. Mit ihren „New York Nights“ haben Pamela und Al eine Plattform für den musikalischen Nachwuchs im Ruhrgebiet geschaffen, die vielen eine Starthilfe für eine Musikkarriere geworden ist. Am heutigen Abend ist der Ruhrpott-Sänger Kieron einer der Special-Guests und wird schon vor seinem Auftritt von zahlreichen Teenies umschwärmt und um Selfies gebeten.

Pamela Falcons Werdegang ist so einzigartig, dass er uns innerhalb kürzester Zeit staunend zuhören lässt, während sie und Al erzählen, wie sie als geborene US-Amerikaner in New York zur Musik kamen. „Ich kenne Al schon seit ich zehn bin“ beginnt Pamela und Al ergänzt: „Wir haben zusammen in Bands gespielt und waren ab Ende der 70er Jahre mittendrin in der New Yorker Musikszene. Damals konnte man spüren, dass gerade etwas Besonderes passiert. Plötzlich gab es ein paar sehr coole Bands, Blondie, Talking Heads, später dann die Red Hot Chili Peppers. Die konnte man alle bei ihren ersten New York Konzerten erleben.“ Pamela führt fort: „Und wir sind unter anderem im China Club aufgetreten, wo auch mal Prince oder David Bowie und andere vorbeikamen. Das war Anfang der 80er bis Mitte der 80er. Aber ich spielte auch im CBGB oder in Max’s Kansas City, all den heute legendären Clubs.“ Die beiden erzählen so anschaulich, von langen Nächten im Studio 54, von Disco-Parties in der umgebauten Kirche Limelight, von den Anfängen der heutigen Ikonen, dass wir uns wie nach New York versetzt fühlen.

In diesen Jahren spielen die beiden mit ihrer Band „guten alten amerikanischen Rock“, wie Pamela es nennt. „A little heavy with a litte soul“. Vielleicht ein wenig zu klassisch, so dass der richtige Durchbruch ausbleibt. „Wir haben in New York mit vielen fantastischen Leuten gearbeitet, aber es kam ein Zeitpunkt, wo das alles endete“, rekapituliert Pamela Falcon. „Das war ein Moment, wo ich auf meinem Bett saß und dachte: Ich brauche dringend ein neues Abenteuer.“ Die Gelegenheit für einen Neuanfang bietet sich, als ihre Agentin ein Casting für ein Musical-Engagement in Deutschland an Land zieht. „Ich sagte: „Oh je, jaa, ich will ein Abenteuer, aber das ist ein bisschen viel‘“, erinnert Pamela schmunzelnd. „Und meine Agentin sagte nur: „‚Du gehst dahin und Du KRIEGST DEN JOB! –und DANN kannst Du ihn immer noch ablehnen!‘, eine richtige New Yorker Agentin halt! Also schrie ich: Jawohl! Ich KRIEGE DEN JOB! und flog zum Casting nach Deutschland.“ Pamela Falcon bekommt den Job und beginnt innerhalb von einer Woche eine Promo-Tour durch die Bundesrepublik für „Starlight Express“. „Ich war schon lange Fan von den Scorpions und habe sie mehrfach in den USA live gesehen“, sagt sie. „Also dachte ich: Was habe ich zu verlieren? Ich werde meine Rockmusik dann eben in Deutschland machen. Und irgendwann mit den Scorpions spielen.“

Natürlich wollen wir von den beiden wissen, ob ein solcher Wechsel von der Weltmetropole New York in das vergleichsweise beschauliche Bochum nicht einen ausgewachsenen Kulturschock ausgelöst hat. „Manches war schon total anders“, gibt Al zu. „Alle Shops machten um sechs zu und wir fragen uns: Wo kriegen wir denn jetzt unser Essen her? Aber es war auch eine spannende Dynamik zu spüren. In New York gab es zum Beispiels Musicals schon ewig, hier fing das erst an und in Bochum wurde dafür ein ganz neues Theater gebaut.“ Pamela ergänzt: „Das vergesse ich nie: In meiner ersten Nacht in Bochum fragten mich all die Kids die ganze Zeit: Warst Du schon in der Stadt? Hast Du die Stadt schon erlebt? Du musst mitkommen! Ich kam ins Bermuda3Eck, die Stadt war voll, es war Ende des Sommers und alle saßen draußen und ich dachte nur: Ich bin am richtigen Ort! Hier kann ich gute Musik machen!“

So wie die beiden es im China Club in New York erlebt hatten, suchen sie einen Ort, an dem junge Talente ihre ersten Erfahrungen machen können, an dem etablierte Stars nach ihren großen Konzerten zum After-Show-Jammen kommen können. Es dauert eine ganze Zeit, aber mit dem Riff finden sie Ende des Jahrtausends den geeigneten Club. In den Folgejahren etablieren sich die „New York Nights“ als ein Abend, an dem immer wieder Künstler, Schauspieler, hervorragende Musiker aus der Musicallandschaft der Region und junge Nachwuchstalente die Bühne entern. Und schließlich gelingt Pamela Falcon auch selbst der Durchbruch: In der ersten Staffel der Casting-Show „The Voice of Germany“ liefert sie sich mit dem Texaner Percival ein Gesangsduell um den Song „Purple Rain“. Ein Millionenpublikum ist begeistert von ihrer facettenreichen Rock-Stimme. Seither arbeitet sie als Gesangslehrerin, coacht Nachwuchsmusiker und etablierte Künstler und ist für TV-Shows im Einsatz. Ihrer Mittwochs-Show im Riff bleibt sie trotz der Aktivitäten treu. Ein wenig Stolz klingt aus ihren Worten, als sie zum Abschluss sagt: „Für mich aber das Tollste ist, dass wir wirklich vielen jungen Talenten eine Chance geben konnten, die den Traum hatten, einmal bei uns zu spielen. Und viele von ihnen sind einen großartigen Weg gegangen, viele sind in der Region geblieben und haben die Musikszene belebt.“

Bochum scheint uns, als wir nach Ende der Show im Riff noch an den Rand der Stadt kurven, wirklich als eine unterschätzte Popstadt: NDW-Zentrum in den 80er Jahren, Weltstars in der Zeche, Musical-Hochburg und Party-Zentrale. „Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser als man glaubt“, knödelte Herbert Grönemeyer. Der Stadtteil Bochum-Langendreer hingegen ist trostloser als man glaubt. Hier sind wir hingefahren, um nach den Resten einer Subkultur-Clublegende zu schauen. Direkt an der S-Bahnstation befand sich bis vor wenigen Jahren das Zwischenfall. Von seiner Eröffnung an, Mitte der 80er Jahre, wurde dieser ungewöhnliche Laden – unten Kneipe, oben Disco, eine Treppe zum Sitzen und alles permanent dunkel – zum wichtigsten Treffpunkt der „Schwarzen Szene“. Teile des Underground-Films Kinder der Nacht entstanden hier, bekannt waren auch Fetisch- und BDSM-Parties, die sich erstaunlich gut mit der düsteren Musik der Gothic-, Dark-Wave und Gruftie-Szene vertrugen. Auch wegen des Zwischenfall als Anlaufpunkt der Szene entwickelten sich diese Subkulturen im Ruhrgebiet besonders stark.

Traurigerweise brannten 2011 Wohnungen oberhalb der Diskothek. Das herunterlaufende Löschwasser zerstörte das Zwischenfall unwiederbringlich. 2017 wurde das Gebäude abgerissen. Ernüchtert blicken wir auf eine leere Baufläche und beschließen, in der nächstbesten Kneipe ein Bochumer Bier auf den Geist des verlorenen Clubs zu trinken. Als wir die gegenüberliegende Keller-Kneipe betreten, begrüßt uns beißender Uringeruch. Auf dem durchgetretenen, schäbigen Teppich rollen Staubflusen, schnarcht ein Hund und tanzt die Wirtin zu Schlagermusik mit einem alkoholisierten Stammgast. Wir setzen uns in eine Ecke und blicken ratlos auf das Geschehen. Nur noch ein weiterer Gast sitzt schweigsam an der Theke. Ohr- und Augenbrauen-Piercings lassen uns auf eine Punk-Sozialisation hoffen und wir erzählen ihn vom Grund unseres Besuchs. Als wir das Zwischenfall erwähnen, leuchten seine Augen auf. „Der Laden war der beste Laden überhaupt“, sagt er nostalgisch. „Als ich 16 war, wohnte ich noch in Hannover und bin wirklich jedes Wochenende hier nach Langendreer gefahren! Nur, um ins ‚Zwischenfall‘ zu gehen“, berichtet er. „Und die Leute kamen von überall her. Das war genau meine Szene. Irgendwie bin ich hier dann hängengeblieben. Und nun bin ich in Bochum Sozialarbeiter“. Er wendet sich wieder seinem Bier zu und wir verabschieden uns mit dem traurigen Gefühl, dass eine Szene ihr Zuhause verloren hat. Wir beschließen, dass es Zeit wird, zu schauen, wo heute Konzerte und Festivals ihr Zuhause haben. Dortmund, die große Livemusikzentrale des Ruhrgebiets, scheint ein gutes Ziel.

Dortmunder U bei Abend, © Frank Vinken

Dortmund


Kaum eine Stadt verbindet eingängigen Mainstream und simplen Pop ebenso selbstverständlich mit hartem Rock und avantgardistischem Experiment wie Dortmund. Punk und NDW, Metal und Hardrock, aber auch Elektronik und Schlager waren und sind hier zuhause. Dortmund ist die Stadt von Phillip Boa ebenso wie von Tic Tac Toe, von Sir Hannes Smith und dem Punk der Idiots genauso wie von Heino-Entdecker Ralf Bendix oder dem Ghetto-Rap-Newcomer Brenna.

Vielleicht liegt diese Vielfalt daran, dass die die Popgeschichte in Dortmund besonders früh begann. Baby Rock der Dortmunder Band Elras Brother’s und die Teddy Long Boys gilt als erste Rock’n’Roll-Schallplatte aus dem Ruhrgebiet überhaupt. Man könnte auch sagen, dass der Beat in Deutschland erst durch Dortmund zu einer Massenbewegung werden konnte, schließlich ist der Begründer des Hamburger Star Club Manfred Weißleder gebürtiger aus der Stadt. Aber schon lange vorher war die Stadt überaus musikalisch. Beispielsweise war der Hot Club Dortmund, Vorläufer des heutigen domicil, bereits ab 1948 ein Jazz-Hotspot der Region.

Im Laufe der Popgeschichte hat fast jede Musikbewegung in Dortmund ihren Wiederhall gefunden. Den Folkrock und politischen Pop der 70er Jahre repräsentieren Cochise, die mit Songs wie „Rauchzeichen“ zu einem Sprachrohr der Umwelt- und Friedensbewegung wurden. Ulrich Schmidt-Salm begann als Punkrocker in der Band Neat, bevor er den Reggae entdeckte, Musikproduzent wurde und als Natty U mit der Dub-Version des The Cure-Songs „Boys don’t cry“ einen Welthit landete. Punker im Herzen blieb dagegen Sir Hannes Smith. Mit seiner 1978 gegründeten Band Idiots trieb er die Punkrevolution in Deutschland voran und betreibt heute den exzellenten Plattenladen Idiot Records in der Dortmunder Innenstadt. Auch die Neue Deutsche Welle und ihre Ausläufer zogen an der 580.000-Einwohner-Stadt nicht spurlos vorbei. Den Conditors („Kalt wie Eis“) gelang ein kleiner Hit, bevor die Strandjungs Mitte der 80er mit lockeren, schlagerangehauchten Popsongs Erfolge feierten. Hip Hop findet bis heute in der migrantisch geprägten Stadt eine große Anhängerschaft. Einige Künstler wie Der Wolf („Gibt’s doch gar nicht‘) oder das Trio Tic Tac Toe schielten dabei unverhohlen auf kommerziellen Charterfolg. Subkulturelle Relevanz erlangten zur Jahrtausendwende Crews wie Too Strong und Koma Mobb.

Ein Grundstein für diese Genrevielfalt ist Dortmunds Status als Festival- und Konzertzentrum. Schon ab Ende der 60er Jahren sorgt das Freizeitzentrum West dafür, dass faszinierende Bands in der Stadt auftreten. In dem ungewöhnlichen Jugendclub, westlich der Innenstadt im Kreuzviertel von der Stadt mit Kegelbahn im Keller, Kinosaal und Minigolfanlage gebaut, finden gerade einmal ca. 350 Zuschauer Platz. Über 40 Jahre sind hier aufstrebende Bands zu erleben wie die Scorpions, Bad Religion, Green Day, White Stripes oder die Fantastischen Vier. Außerdem findet im Keller des FZW ab Mitte der 90er Jahre der „Club Trinidad“ statt, aus dem im Laufe der Zeit das renommierte Festival für elektronische Musik „Juicy Beats“ wird. Mittlerweile ist das FZW an anderem Ort größer und kommerzieller ausgerichtet. Noch immer ist auch die elektronische Mischung wichtiger Programmbestandteil und zentral für die Dortmunder Musikwelt. Seit 1993 findet in den Westfalenhallen das Techno-Großereignis „Mayday“ statt. Sie gilt mit bis zu 25.000 Tanzenden als größter Indoor-Rave Deutschlands.

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Der popkulturell bedeutsamste Sohn der inzwischen größten Ruhrgebietsstadt ist allerdings Phillip Boa, der von 1983 als zu einem auch international geschätzten Post-Punk/New-Wave und Alternative/Avantgarde-Künstler wird. Wie viel er seiner Geburtsstadt zu verdanken hat, kann er nicht leicht ermessen. Als wir ihn danach fragen, erzählt er als entscheidendem musikalischem Impuls von zwei Reisen in die britische Hauptstadt. „Zweimal war ich mit dem Englischunterricht in London, nachdem der Punk Ende der siebziger Jahre ausgebrochen war. Wir fragten auf der Straße, wo der Punk ist. Zweimal waren wir eine Woche lang jeden Abend in Clubs. Daher kamen die Kicks“, erinnert Boa. Der Do-it-yourself-Ansatz der Sex-Pistols-Nachfolger Public Image Limited inspiriert ihn, XTC, Talking Heads, Television, Joy Division und New Order leben eine neue Form der Rockmusik aus, die mit den Regeln der alten Hippie-Formationen bricht. Zurück in Dortmund gründet er Bands, ohne daraus wirklich eine musikalische Befriedigung zu ziehen. Mit seiner damaligen Freundin Pia Lund entsteht dann 1983 die Band Phillip Boa and the Voodooclub. Die ersten Alben nimmt mit Eroc ein guter alter Bekannter aus Zeiten der Band Die erste weibliche Fleischergesellin nach 1945 in den Woodhouse Studios auf.

Phillip Boa and the Voodooclub wird zu einer der wandelbarsten Formationen des deutschen New Wave, auch wenn Boa heute sagt, er habe anfangs nicht an die Band geglaubt. Und mit der Dortmunder Szene hat er auch keine Tuchfühlung aufgenommen. „Ich bin Dortmunder und liebe die Stadt, aber ich habe musikalisch hier seit Jahrzehnten nichts mehr gemacht. Ich fühle mich Hamburg, Berlin, Leipzig, London und New York mehr verbunden“, resümiert er. Immerzu zog es ihn für musikalische Inspirationen in die Ferne, auch wenn Dortmund neben Hamburg und London heute sein Wohnort ist. Dieser Blick in die Ferne hat Gründe: „Als wir damals in Dortmund ausgingen, sind wir angepöbelt worden. Ich liebe die Stadt, ich liebe den BVB. Aber musikalisch: Wäre ich dageblieben, wäre ich Architekt geworden“, sagt er, ohne sich damit abfällig über Architekten äußern zu wollen. Aber ihm habe es immer an Infrastruktur gefehlt. „Es gab in Dortmund einfach keine Unterstützer. Es gab zwar Musiker in Punkbands, zum Teil Soldaten, es gab coole Clubs wie das Java. Da spielten ständig geniale Reggae-Bands. Aber im Old Daddy waren maximal 50 Leute am Wochenende und 20 an Wochentagen, das waren Leute, die bis heute in der Musikszene etwas bewegen“, sagt er.

Für seine musikalische Sozialisierung seien, so berichtet er, vor allem die Kasernen entlang der Bundesstraße 1 wichtig gewesen und die dort kasernierten britischen Soldaten. „Die haben Glamour reingebracht. Mit ihnen rumzuhängen war cool. Das war so etwa zwischen 1981 und 1988. Sogar für jemanden, der oft in London war, war das cool“, sagt Boa. Um die spannendste Phase im Ratinger Hof in Düsseldorf mitzubekommen, sei er aber zu spät dran gewesen. Stattdessen ging es regelmäßig nach Bochum. Clubs, aber auch die Plattenläden Last Chance und Discover werden für ihn wichtige Treffpunkte. In ihnen findet ein spartenübergreifender Austausch über Inhalte gegeben statt, den er heute manchmal vermisst. „Die Leute waren sehr Do it yourself – keine studierten Musiker. Für sie waren auch Film und Literatur wichtig. Ich war nie ein genialer Musiker, ich hatte mehr Videokassetten als LPs“, erzählt er. „Heute gibt es nur noch Musiker, die das studieren und nichts anderes mehr im Blick haben. Das sind Handwerker. Wenn ich denen zwei Filme und ein Buch mitgebe, um die Welt zu verstehen, erreicht sie das nicht. Es geht um Vermarktung – oh wie boring“, sagt Boa.

Mit Phillip Boa and the Voodooclub nimmt Boa bis heute Alben auf, schreibt Hits wie „Container Love“ oder „Kill Your Ideals“. Die Musik pendelt zwischen Wave, flächiger Elektronik und hartem Indierock – eine Weiterentwicklung der einstigen Idole aus England und den USA. Seit 1986 führte er mit Pia Lund auch das selbst gegründete Label Constrictor, auf dem deutsche und britische Indie-Bands veröffentlichten. Als sich die Bandbesetzung des Voodooclubs 1993 auflöst, trennen sich Lund und Boa auch wenig später privat. Pia Lund ist seither ein wichtiges Aushängeschild in der Musik und der bildenden Kunst der Stadt. Und auch wenn Dortmund Phillip Boa vielleicht nicht musikalisch beeinflusst hat, so als Persönlichkeit sehr wohl. „Die westfälische Sturheit hat mich geprägt“, gibt er zu. „Das ist eine Art Coolness, verletzend und ehrlich. Man lässt sich nicht hineinreden.“ Wenn man sich die vielen immer noch glänzenden Veröffentlichungen der vergangenen Jahre vergegenwärtigt, wird deutlich, dass er wohl auch deshalb so wenig über die Vergangenheit in Dortmund sprechen mag, weil er weiter hungrig auf Neues ist. „Ich will niemand sein, der nur an der Vergangenheit hängt und das Heutige scheiße findet. Die Zukunft interessiert mich mehr als die Vergangenheit“, sagt er zum Schluss.

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Konzert Duisburg Landschaftspark, © RTG Hoffmann

Duisburg


Viele Ruhrgebietsstädte haben unter dem Klischee zu leiden, hässliche, arme Arbeiterstädte ohne Grün und ohne Kultur zu sein, deren Besuch, insbesondere für internationale Gäste, verzichtbar ist. Dies gilt allen voran für die 500.000 Einwohner-Stadt Duisburg, tief im Westen des Ruhrgebiets. In der öffentlichen Wahrnehmung laufen ihr Essen und Dortmund meist den Rang ab. Blicke auf Duisburg fallen eigentlich nur dann, wenn Negatives zu berichten ist, von den leeren Stadtkassen, der hohen Arbeitslosigkeit oder der Perspektivlosigkeit Jugendlicher. Der Stadtteil Duisburg-Marxloh gilt als der Inbegriff einer politisch und gesellschaftlich verwahrlosten deutschen ‚No-Go-Area‘. Und auch der Duisburger Hauptbahnhof, an dem wir an einem sonnigen Frühlingstag ankommen, hat die anstehende Sanierung mehr als nötig. Bei der Zugeinfahrt wird das Herz schwer, denn der Regionalexpress passiert die Hallenruinen des ehemaligen Güter- und Rangierbahnhofs. Hier starben 2010 im Gedränge 21 überwiegend junge Menschen in einem unübersichtlichen Tunnelbereich, der als Zugang für die Techno-Veranstaltung Loveparade dienen sollte. Eine berührende Gedenkstätte erinnert, wenn sie nicht gerade wieder einmal von Vandalen zerstört wurde, an das Unglück in der Karl-Lehr-Straße.

All diese Verknüpfungen sorgen dafür, dass zu oft vergessen wird, was für eine lebenswerte und kulturell faszinierende Stadt Duisburg ist. Der Gitarrist und Teil der Band Bröselmaschine Peter Bursch sagte uns: „Wenn Du in den Veranstaltungskalender coolibri guckst: Es gibt jeden Tag hundert Konzerte, das Ruhrgebiet ist der größte Kulturraum Europas – auch für Klassik oder einen abgedrehten DJ-Abend“, betonte er. „Allein in Duisburg gibt es 500 Bands, die in Proberäumen proben. Die Szene ist wirklich groß. Dazu gibt es unzählige Clubs, in denen Livemusik gespielt wird. In Duisburg sind es bestimmt 15 bis 18.“ Zudem existiert im Landschaftspark Duisburg-Nord das jährlich mit hervorragendem Programm ausgestattete „Traumzeit-Festival“, rund um den Dellplatz gibt es Livemusikorte und im Winter das Musik, Kunst und Theater verbindende „Platzhirsch-Festival“. Die „Duisburger Akzente“ sind seit 1977 ein europaweit geschätztes Kulturfestival für Theater, Bildende Kunst, Literatur & Film.

Wir aber wollen ans Wasser. Eine Straßenbahn fährt uns durch die Altstadt und am Duisburger Innenhafen vorbei in den Nordwesten der Stadt. Jeder Stadtteil sieht anders aus und wir müssen daran denken, wie Tom Liwa uns im Gespräch [siehe Spotlight /Link 02] seine Heimatstadt beschrieben hat: „Manchmal sind die Straßen eng, manchmal sind die Straßen fast doppelt so breit in der nächsten Siedlung, wie kleine Alleen. Man kann hier herumfahren, als wäre das Ganze ein riesengroßer Park. Man kommt in verschiedene Bereiche wie im Zoo, wo hier die Kängurus sind und dort dann die Pandas, dann die Esel.“ Stück für Stück wird es industrieller, nachdem wir über die Ruhr gefahren sind. Im Stadtteil Ruhrort steigen wir aus, dort wo die Ruhr in den mächtigen Rhein mündet und der vermutlich größte Binnenhafen der Welt beginnt. Es ist ein Ort, wie es keinen zweiten in Deutschland zu sehen gibt. Rund um den Neumarkt finden sich urige Seemannskneipen wie das Zum Anker, es gibt eine Bank für Schifffahrt ebenso wie ein Schifferkinderheim. Museale Raddampfer dümpeln am Kanal. Vielerorts lässt sich an prachtvollen Häuserfassaden noch erahnen, dass hier einmal der Reichtum saß.

Um 1900 herum war Ruhrort das Tor zum Ruhrgebiet mit einer hohen Händler- und Millionärsdichte. Das Aufeinandertreffen von ihnen mit den Schiffern aus Deutschland und Holland ließ den Stadtteil bis in die 1960er Jahre hinein zum ‚St. Pauli des Westens‘ werden mit mehr als 100 Kneipen, Amüsements und Rotlicht-Vergnügungen. Besonders berüchtigt war die Bar Tante Olga, passenderweise auf halber Strecke zwischen den Kirchtürmen der evangelischen und der katholischen Pfarrei situiert war. Man kann sich mit halbgeschlossenen Augen vor das heute bordeauxrot gestrichene Wohnhaus stellen und sich vorstellen, wie Anfang der 60er Jahre offenherzige Animierdamen die Schiffer bespaßen und sich die mutigen Beat-Kids aus der Region vorsichtig dazugesellen. Unter diesen ist auch Udo Lindenberg, heute Deutschlands größte Rocklegende. Er studiert nach wilden Anfangstagen in Düsseldorf am Duisburger Konservatorium Schlagzeug und verbringt die Nächte bei Tante Olga. Hier setzt ihn Benny Quick, der gerade mit seinem Stück „Motorbiene“ einen Hit hat, auf die Spur. „Ich habe ihn gefragt, ob Popsänger ein geiler Beruf ist. Klar, sagte der: lange Autos, lange Schecks, jede Menge Frauen und Männer. Okay, dachte ich mir, das mache ich auch.“, erzählte Lindenberg vor einigen Jahren dem Handelsblatt. Im Ruhrort lernt Lindenberg, wie viele andere, auch das harte Trinken. So ist es passend, dass wenige Meter von ‚Olga‘ entfernt die Horst-Schimanski-Gasse an den in Duisburg ermittelnden trink- und prügelfreudigen TV-Kommissar erinnert.

Ruhrort verliert im Laufe der 60er Jahre seine Bedeutung zusammen mit dem Aufkommen der alternativen Gegenkultur. Kommunen und WGs entstehen, mehr bewusstseinserweiternde Drogen als Alkohol werden konsumiert, experimentelle Musik ist angesagt. Rund um Peter Bursch und die Bröselmaschine entsteht eine kleine Musikszene. Sie macht aus dem zunächst besetzten Eschhaus in der Niederstraße am Innenhafen, der ältesten Straße Duisburgs, zu Beginn der 70er Jahre ein selbstveraltetes Jugendzentrum. Bis zu seinem schwer umstrittenen Abriss Ende der 80er Jahre sind hier fantastische Bands zu erleben - Alexis Korner, Julie Driscoll, BAP, Ton Steine Scherben und viele mehr. Vor allem aber ist das Zentrum Eschhaus Ort einer ‚Staffelübergabe‘ von Generation zu Generation. Es ist ein Ort, an dem Heavy-Metal aufblühen kann (und sei es, weil Peter Bursch vielen der Musiker, u.a. Kreator, Gitarrenunterricht gibt). Und hier entwickelt sich Duisburg zu einer Punkhochburg im Ruhrgebiet.

Um mehr über die Besonderheiten des Ruhrpott-Punks zu verstehen, holen wir die Journalisten Dennis Rebmann & Philip Stratmann ins Boot. Die beiden haben in beeindruckender Fleißarbeit, gestützt auf ihr eigenes Fansein und viele Gespräche das Buch Mit Schmackes. Punk im Ruhrgebiet geschrieben. In ihm porträtieren sie all die Punksbands der Gegenwart, die im Ruhrgebiet hochgeschätzt werden, außerhalb der Landesgrenzen jedoch kaum Beachtung erlangen. Viele, wenn auch längst nicht alle, dieser Bands gehören zum Prollpunk mit deftigen, mal ironischen, mal schmutzig-rotzigen Texten und einer äußerst bierverliebten Attitüde. Angestoßen ist diese Bewegung allen voran durch die Oi-Punkband Pöbel & Gesocks um die regionale Berühmtheit Willi Wucher. Als Beck’s Pistols schon 1979 gegründet musste sie sich auf Betreiben der Brauerei umbenennen. Von hier an, so die beiden Musikexperten, entwickelte sich letztlich die „heilige Dreifaltigkeit des Ruhrprollpunk“. Sie besteht aus den 1982 gegründeten Lokalmatadoren aus Mülheim an der Ruhr, Eisenpimmel aus Duisburg, die mit ihrem Stück „Komm mal lecker unten bei mich bei“ einen Partyklassiker geschrieben haben und schließlich den Kassierern aus Bochum. Deren bekannteste Songs haben illustre Titel wie „Blumenkohl am Pillemann“, „Rudelfick im Altersheim“ oder „Mein schöner Hodensack“. Kaum ein Festival kommt aus ohne das lautstarke Gröhlen: „Aber das Schlimmste ist, wenn das Bier alle ist“. Duisburg gehört zu den wichtigsten Städten für diese Subkultur. Und eine solche ist es in der Tat, denn außer den Kassierern hat höchstens noch die Mülheimer Punk-Ska-Band Sondaschule nationalen Erfolg erlangen können. „Stell Dir vor: Du bist Bochumer und spielst 500 Meter weiter in Essen. Und schon hast Du einen Gig außerhalb der Stadt. In Berlin musst Du richtig die Stadt verlassen und bis nach Hamburg oder so, um ein solches Gefühl zu bekommen. Hier hat man recht schnell das Gefühl, es zu schaffen, weil man in einer anderen Stadt spielt“, erklärt Stratmann die Tatsache, warum es viele Bands gar nicht darauf anlegen, den Pott zu verlassen. „Zwischen Dortmund und Duisburg bieten sich genügend Auftrittsmöglichkeiten, man kann damit ganz gut zurechtkommen“, ergänzt Rebmann. Das meiste bleibt lokal oder regional, von der Musik leben kann kaum eine der Bands. „Dadurch aber gibt und gab es kaum die Kommerz- und Neiddebatten, wie sie immer wieder in anderen Punkszenen zu beobachten sind“, bemerkt Rebmann. Umfangreich ist die Szene dennoch. Das Festival „Ruhrpott-Rodeo“ ist beispielsweise das größte punkinfizierte Open-Air der Republik. „Punk im Pott“ in Oberhausen gilt als das größte Indoor-Punk-Festival des Landes. Ansonsten aber ist Punk, so die beiden Autoren, eher eine Clubszene, die sich in Kneipen, Clubs, autonomen und soziokulturellen Zentren findet. Die Punker sind es auch, die am lautstärksten die Klischees des Ruhrgebiets hochhalten. „Das ist schon kurios“, wundert sich Stratmann. „Manchmal hat man den Eindruck, die Punkbands glorifizieren bis heute die Arbeitermentalität, den Strukturwandel und die ökonomischen Schwierigkeiten des Potts, als würden sie augenzwinkernd den herablassenden Blick von Hamburgern und Berlinern einnehmen.“ Und Rebmann fügt hinzu: „Dieses Klischee vom Ruhrgebiet mit seinen rauchenden Schloten und Maloche gibt es ja eigentlich seit den 80er Jahren gar nicht mehr. Aber es ist eben sehr identitätsstiftend. Auch weil man mit ihm an die frühen Punks in England anknüpfen kann. Niemand thematisiert, wie grün es mittlerweile hier ist“, sagt er lachend.

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Die deutsche Mainstream-Radiolandschaft ist überschüttet mit fürchterlich kitschiger, deutschsprachiger Popmusik, die verzweifelt nach Coldplay klingen möchte und am Ende doch bei Provinzialität und Berufsjugendlichkeit landet. Wer lebenserfahrene Musik aus Deutschland hören will, die mitten ins Herz trifft und sich mit jedem Hören neuer und weiter anfühlt, der ist bei dem Duisburger Songschreiber Tom Liwa gut aufgehoben. Dies gilt für die Alben seiner (immer mal aufgelösten und wiedervereinigten) Band Flowerpornoes ebenso wie seine hervorragenden Soloalben oder die Stücke, die er für andere wie die Kölner Band Klee [LINK] geschrieben hat. Alben wie ... red‘ nicht von Straßen, nicht von Zügen (1994), St. Amour (2000) oder auch das aktuelle Ganz normale Songs, das auf dem Hamburger Label Grand Hotel van Cleef erschienen ist, beweisen seine Einzigartigkeit. Seine Texte sind lebenskluge, oft tieftraurige, genau beobachtende Tagebucheinträge, häufig auch kleine Novellen, die sich um eine unerhörte Begebenheit herum ins Herz fräsen: Um einen Arztbesuch mit düsterer Diagnose, eine schicksalhafte Begegnung am Fluss, ein merkwürdiges Eichhörnchen und ein seltsames Mädchen.

Wir erreichen den Songschreiber am Telefon. Er wohnt lange schon nicht mehr in Duisburg, sondern mittlerweile im ländlichen Raum. Wir sind neugierig zu erfahren, wann und wie ihn sein Aufwachsen im Ruhrgebiet musikalisch geprägt hat. Er verortet diese Einflüsse sehr früh in seiner Biographie, zunächst aber recht unabhängig von den Besonderheiten des Ruhrgebiets. „Am Anfang war sicher das Radio wichtig, WDR-Radio mit klassischer Musik und Schlager“, vermutet Liwa. „Und dann brachen in den 60ern seltsame Formen von Musik herein. Eine Prägung zum Beispiel war: Jimi Hendrix zu hören von jemandem, der gegenüber wohnt und doppelt so alt ist und mir als Achtjährigem das vorspielt. Das erst mal befremdlich zu finden, weil man zwischen Bach’schen Harmonievorstellungen und Schlager aufgewachsen ist, aber trotzdem wahrzunehmen: Das ist heißer Scheiß…“ Wichtig wird sein Vater, der beim Jugendamt arbeitet und Liwa zu Konzerten mitnimmt. „Ich wollte eigentlich schon mit vier oder fünf Musiker werden“, erinnert er. „Da waren die ersten Berührungen – also jetzt abgesehen von Schulaufführungen oder Ähnlichem – mit Livemusik wichtig.“ Mit seinem Vater erlebt er ein Festival im Wedaustadion mit der britischen Hard-Rock-Band U.F.O. „Beim Soundcheck stand ich, vielleicht als Siebenjähriger, neben meinem Vater und vorne waren diese langhaarigen Typen. Da habe ich eine Band zum ersten Mal in ihrem Arbeitszusammenhang gesehen“, erzählt der Songschreiber und berichtet von weiteren wichtigen Erlebnissen wie einem Konzert von Hermann van Veen in der Duisburger Mercator-Halle.

Irgendwo zwischen diesen vielen Musikstilen entwickelt sich Tom Liwas eigene musikalische Ästhetik. Aber als wir nachfragen, ob hierbei die Popgeschichte des Ruhrgebiets eine Rolle gespielt habe, die Beatszene oder die erfolgreichen Krautrock-Bands, verneint er energisch: „Für mich war mein Musikschaffen nie an Städte gebunden. Für mich war das auch nie wichtig, ob irgendjemand aus Duisburg jemals irgendetwas geschafft hat,“ sagt er und fährt nach langem Überlegen vorsichtig formulierend fort: „Ich bin mir aber sicher, dass mich die Region dennoch geprägt hat. Das Wetter. Die Mentalität der Menschen, die mich umgeben haben. Aber auch ganz bestimmt die Architektur, die meine Vorstellung von Räumen beeinflusst hat. Wie sich Musik in Räumen anhört – vom Kinderzimmer, wo ich das erste Mal gesungen habe, bis zum Jugendzentrum.“ Gab es wirklich keine Duisburger Künstler, die ihn beeindruckt haben, drängen wir. „Doch, es gab einen hier in Duisburg, der mich sehr beeinflusst hat, allerdings erst zu einer Zeit, als ich mich aus meiner Sicht schon selbst für einen Songschreiber hielt, also noch bevor ich Songs geschrieben habe: A.S.H. Pelikan. Mit ihm habe ich später auch ein paarmal zusammengespielt. Der war eigentlich der erste Singer-Songwriter, den ich erlebte und gut fand. Als eine Person, die vor mir stand und mit etwas gefüllt war.“

A.S.H. Pelikan ist einer dieser Künstler, deren Lebensweg ein ganzes Buch verdiente. Zig Tonträger und Textveröffentlichungen hat er seit 1971 als Musiker und Schriftsteller veröffentlicht, vielfach im Selbstverlag. Dazu ist er Gitarrenlehrer, Schauspieler und vieles mehr. Auf seiner Homepage findet sich eine Zeitleiste (http://ashpelikan.de/?page_id=463), die eine hochvergnügliche Duisburger Welt-Kulturgeschichte ist (und in der Tom Liwa ebenfalls eine Rolle spielt). Zusammenfassend begrüßt die Homepage den Besucher mit folgenden Worten: „Pelikan gilt als einer der erfolglosesten Duisburger Autoren und Liedermacher der letzten 40 Jahre. Weltweit hat er 984 Bücher und 652 CDs verkauft.“

Ihn erlebt Tom Liwa im Eschhaus, so dass dieses Jugendzentrum auch für ihn, wie für so viele weitere, zu einem wichtigen Inspirationsort wird. „Diese Jugendzentren waren für viele wichtig“, erläutert er. „Wenn man irgendwie in diesen Kreisen drin war, dann waren sie ein Ort, wo man sagen konnte: Wir wollen in zwei Wochen mit dem und dem gerne mal live spielen. Und das ging dann. Auch die Experimentierfreude in diesen Orten. Sich nicht einschränken zu müssen auf ein Format, das sich verkaufen lassen muss, mit dem man sich direkt an einen Markt begibt. Sondern, dass man etwas ausprobieren konnte vor Leuten.“

1985 gründet Liwa schließlich seine Band Flowerpornoes, mit der er mittlerweile neun Alben veröffentlicht hat, anfänglich auf Englisch, später deutschsprachig. Häufig war und ist er auch auf Solopfaden unterwegs. Zudem hat er zahlreiche Kultur-Projekte auf die Beine gestellt, sich mit Spiritualität und Nachhaltigkeit beschäftigt und vor kurzem seine langjährige Beschäftigung mit Malen und Zeichen in eine erste Ausstellung eigener Werke überführt. In dieser Zeit hat er viele Szenen und angesagte Stile, den Punk, den Deutschrock, die Hamburger Schule und weiteres kommen und gehen sehen und sich meistens weitestmöglich ferngehalten. Vielleicht hat ihm geholfen, dass es im Ruhrgebiet nie die ganz großen Szenen gab, sondern eher immer nur Mikroszenen, Subszenen. „Es gibt doch Stimmen, die sagen: Sobald eine Bewegung mehr als 200 Anhänger hat, ist sie eh am Arsch, weil sich dann alles verwässert und sich selbst auffrisst“, sagt Tom Liwa zum Schluss unseres Gesprächs. „Vielleicht sind Entwicklungen in kleinen Kreisen ja auch viel spannender. Wenn die absterben, können sich dann schneller die nächsten Mikrosachen daraus morven. All das entzieht sich auch viel hässlicher Vereinnahmung.“

Wir hören noch auf dem Weg zur Bahn noch einige Songs der vielfältigen Duisburger Popgeschichte, die vom Krautrock der Bröselmaschine über den Singer-Songwriter-Folk von Danny Dziuk und den Punk der Dödelhaie bis zu dem einzigartigen Tom Liwa führt. Unser Herz wird schwer bei der Schönheit von Liwas Song „Für die linke Spur zu langsam“.

Dann fahren wir zur letzten Station unserer Entdeckungsreise. Noch einmal geht es nach Bochum.

Bochum

Ein hippes Eis-Café in der Nähe des Schauspielhauses. Es gibt spicy Chai Latte mit Sojamilch. Das I Am Love Café könnte statt in der Bochumer Innenstadt genauso auch in Berlin Mitte stehen. Hier treffen wir zum Abschluss unserer Entdeckungstour ins Ruhrgebiet, aus der am Ende eine mehrmonatige Recherche geworden ist, eine der prominentesten und modernsten Bands der Gegenwart. Alina Süggeler und Andi Weizel von der Popband Frida Gold haben lange keine Interviews gegeben und stecken tief in der Arbeit an neuen Songs. Seit ihrem Debüt Juwel gehören sie zu den erfolgreichsten Acts des Landes. Das Album Liebe ist meine Religion mit der gleichnamigen Lead-Single erreichte Platz 1 der Charts, ausverkaufte Touren und Festivalauftritte haben sie als gefeierte Liveband etabliert. Als wir gemeinsam an einem niedrigen Holztischchen sitzen, entwickelt sich ein außergewöhnlich sympathisches Gespräch, bei dem man die langjährige Vertrautheit der beiden spüren kann. Oft ergänzen sie ihre Sätze oder helfen sich gegenseitig bei der Suche nach dem präziseren Wort. Sie erzählen die Geschichte einer Band aus dem Ruhrgebiet, die ausgezogen ist, das Land zu erobern und im Augenblick wieder heimkehrt zu ihren Wurzeln.

Frida Gold sind eine auf dem Papier unmögliche Mischung aus Einflüssen. Alina Süggeler, die vor den Toren Bochums in Hattingen aufwächst, kommt eigentlich aus der klassischen Musik. Sie singt schon früh im Kirchenchor, lernt Querflöte und studiert dieses Instrument später an der Folkwang Universität. Die Region sieht sie für sich als guten Ausgangspunkt an: „Ich habe Hattingen und den Umkreis durchaus als musikalische Stadt in Erinnerung“, sagt sie. „An meiner Schule gab es ein richtig gutes Orchester, mit dem ich auch Reisen machte. Dann wurden Musicals inszeniert, die tatsächlich auch außerhalb der Stadt nochmal aufgeführt wurden. Das sind alles kleine Dinge, aber es war ein Gefühl da, wenn Du Dich musikalisch ausdrücken möchtest, egal wie, dann gibt es hier irgendwie Platz.“ Und doch trifft sie Mitte der 2000er Jahre mit ihren ersten Bands Amnesia und Linarockt auf eine Menge Widerstand. „Ich habe immer schon sehr poplastige Musik gemacht, weil ich wollte, dass das, was ich sagen möchte, potentiell viele Menschen erreichen kann. Aber ich habe damals schon das Gefühl gehabt, dass ich mich unheimlich rechtfertigen muss für das, was ich tue“, erzählt sie. „In der Musikszene im Ruhrgebiet war zur der Zeit absolut vorrangig härtere Gitarrenmusik zu finden.“

Einer derjenigen, die den lautstarken Krach bevorzugen, ist Andi Weizel. „Ich komme aus Essen-Steele, Da gab es den HüWeg, eines dieser alten Jugendzentren, wo alle unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zusammenkamen, wo Kultur stattfand, und alles aufeinandergeprallte: Hardcore, Hip Hop, die Sprayer.“, erzählt er. „Die Konzerte dort und im nahgelegenen Grend, wo die Underground-Punk-Elite durchreiste, waren für mich der Grund, anzufangen, Musik zu machen. Dieses Aufeinandertreffen von Menschen, die so unterschiedlich sind und die dort Abend für Abend alles gegeben haben, egal ob auf der Bühne oder im Pogo-Kreis vor der Bühne oder beim Sprayen.“ Auf einem Nachwuchsfestival lernen sich die beiden kennen. Amüsiert erinnert Andi Weizel: „Das war für mich zunächst ein völliges Unverständnis, dass dort eine Band mit einer Sängerin auf der Band steht, die so nette“, er lacht und Alina wirft ihm einen amüsierten Blick zu, „also poporientierte Songs macht.“

Es dauert noch etwas, bis aus den beiden Frida Gold wird. Alina Süggeler sammelt in Hamburg Erfahrungen bei dem erfolgreichen Produzenten Franz Plasa, Andi Weizel studiert an der Popakademie Mannheim. Die beiden finden zunächst über die Liebe, dann musikalisch zueinander. „Von Anbeginn konnte ich sehr von Andis Selbstverständnis profitieren, dass man Musik als Leben machen kann und machen darf“, erzählt Alina, „So ein Selbstverständnis war bei mir, trotz der Erfahrungen in Hamburg, bis zu dem Zeitpunkt gar nicht vorhanden.“ Die Band entwickelt Ambitionen und bekommt ein Momentum, es entstehen Songs, immer mehr Leute sind interessiert. Es ist ein Spagat zwischen Ruhrgebiet und Ausbruch. „Uns war schon klar, dass wir mit unserer Musik direkt Leute aus ganz Deutschland erreichen mussten, um die Power zu haben, wirklich auch für Labels interessant zu werden“, erzählt Weizel, der Bass spielt und den Songs am Computer den Schliff gibt. „Das gibt es einfach nicht, dass Du als reine Ruhrgebietsband interessant bist für Labels irgendwo in Deutschland. Selbst, wenn Du hier 500er Clubs füllst, es wird sich niemand aus Berlin oder Hamburg hier herunterbewegen, um sich das anzugucken.“ Alina Süggeler nickt, ergänzt aber: „Als wir die ersten Schritte gemacht haben in Richtung Ernsthaftigkeit, da hatten wir aber trotzdem das Gefühl, dass das Ruhrgebiet ein guter Startpunkt ist. Hier hast Du eine Mentalität, die das Gefühl erzeugt: Du musst richtig reinhauen. Ich glaube, das hat uns am Anfang gutgetan, dass wir die ganze erste Platte hier gemacht haben und erst später nach Berlin gegangen sind. Auch, weil hier kaum jemand vom großen Business lebt. Wenn man zu viel herumgereicht wird, wenn man zu früh zu viele Meinungen einholt und zu viele Leute trifft, verliert man sich vielleicht...“

Das Debütalbum Juwel erscheint 2011. Über den Band-Pool der Popakademie Mannheim und eine Support-Tour für Bosse gelingt der Durchbruch. Die beiden ziehen nach Berlin, zwar nicht mehr als Liebes-, dafür als Songwriting-Paar. Das zweite und das dritte Album nehmen sie unter anderem in Los Angeles auf. Alina Süggeler wird Jurymitglied in TV-Castingshows, modelt erfolgreich, wird in Mode-, Frauen- und Männermagazinen porträtiert. Und doch geht unterwegs etwas verloren. Der Versuch, englischsprachige Songs zu schreiben, wird von den Fans nicht honoriert. Das offenherzige Video zum Song „Langsam“ sorgt eher dafür, dass Süggelers Aussehen und nicht der exzellente Elektro-Pop des dritten Albums Alina Thema wird. Aber es ist auch das Leben in der Hauptstadt. „Berlin ist toll“, sagt die Sängerin. „Aber man kann sich die ganze Zeit mit Dingen beschäftigen und das Gefühl haben, man ist fleißig dabei, und eigentlich lenkt man sich nur ab. Man trifft Leute und trifft Leute und redet und redet, aber man macht am Ende nichts.“ So reift der Entschluss, zurück in die Heimat zu ziehen, ein Vorhaben, das sie vor kurzem umgesetzt haben. „Im Augenblick habe ich das Gefühl, hier im Ruhrgebiet wieder zurück zu meinen und unseren Themen kommen zu können. Nur hier spüre ich meinen Ursprung so gut und kann wieder natürlich von Dingen erzählen“, erläutert Alina Süggeler und ergänzt lachend: „Und plötzlich wollte ich dann einen Song über Bochum schreiben!“

Zeche bei Sonnenuntergang, © Ruhr Tourismus, Jochen Schlutius

Ruhrgebietsimpressionen


Unsere Entdeckungstour im Ruhrgebiet ist zu Ende. Wir haben Hunderte von Platten gehört, eine halbe Bibliothek von Büchern über das Ruhrgebiet zusammengesammelt, zehn Städte besucht und eine Vielzahl beeindruckender Gespräche geführt. Eine eindeutige Antwort auf die Frage, warum die Popgeschichte des Ruhrgebiets so einzigartig verlaufen ist, wie sie es tat, konnten wir nicht finden. Eine besondere Rolle spielt aber sicherlich die für Besucher*innen faszinierende Polyzentralität der Region. In sich kompakte Szenen wie in Düsseldorf um den Ratinger Hof oder den Sound of Cologne entstanden in 60 Jahren Popgeschichte nicht. Dafür waren die Städte vielleicht am Ende doch nicht groß genug. In ihnen gab es kaum ein Stadtviertel mit mehreren, sich gegenseitig anstachelnden Subkulturen, aus denen ein ‚Mainstream‘ werden konnte. Stattdessen verteilten sich die vielen Mikroszenen (erst recht nachts) mit mehr schlechtem als rechtem Nahverkehr über viele nur locker verbundene Groß- und Mittelstädte. Lediglich in Essen mit den „Internationalen Songtagen, „in der Hagener Neuen Deutschen Welle, im Metal oder im Punk bildeten sich über die Städtegrenzen hinausreichende Szeneverbünde.

Jede größere und kleinere Stadt hatte (und zum Teil hat) ein Jugendzentrum oder ein soziokulturelles Zentrum. Die Bedeutung dieser Einrichtungen für die Entstehung von Musik im Ruhrgebiet kann überhaupt nicht überschätzt werden. Ohne das JZE und den HüWeg in Essen, das Eschhaus in Duisburg, das FZW in Dortmund und viele weitere wäre es ziemlich still geblieben im Ruhrgebiet. Gleichzeitig aber dominierte in diesen Einrichtungen seit jeher der laute, männlich geprägte, aggressive Sound. Metrosexuelle, queere oder transsexuelle Lebens- und Kunstwelten finden nur langsam ihren Weg im Ruhrgebiet und bis heute müssen Musikfans Frauenbands mit der Lupe suchen.

Jahrzehntelang war das Ruhrgebiet geprägt von einer ökonomischen Krisenlage und einem Selbstverständnis als Arbeiterregion. Hier gab es keine Unmengen wohlsituierter Studierender, die sich mit dem Geld der Eltern oder staatlicher Förderung das Musikmachen als Hobby leisten konnten. Im Ruhrgebiet musste Musik immer auch finanziell funktionieren, um die Wirte oder die Clubbetreiber zufriedenzustellen und Auftritte zu ermöglichen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Herausgekommen sind ist ziemlich häufig einzigartige Pop-Rock-Metal-Elektro-Musik, die sich nicht für ihr Schielen auf Verkaufszahlen schämt und gleichzeitig den Anspruch vertritt, die Lebenserfahrungen und musikalischen Prägungen des Ruhrgebiets eigenständig auszudrücken. Wenigen nur gelang dabei der Sprung ins Ausland, dafür war und ist das Ruhrgebiet musikindustriell zu schwach aufgestellt. Umso faszinierender ist die Vielfalt von Genres, unterschiedlichen Bands, Künstlerinnen und Künstler, die sich finden und hören lassen, wenn man sich auf die Reise ins Ruhrgebiet begibt. So wie die Städte kein touristischer ‚Mainstream‘ sind, sondern ungewöhnliche Orte für Liebhaber des Besonderen, so klingt die Musik.

Überall in der Region konnten wir faszinierende Orte der Popgeschichte entdecken: Die Grugahalle, Duisburgs Ruhrort oder die Zechen Carl und Bochum sind beeindruckende Popspots, an denen man Pophistorie auch heute noch erspüren kann. Leicht fiel es, in Bochums Bermuda3Eck, in Dortmunds Szenekneipen, in abgewrackten Punkkaschemmen in Gelsenkirchen oder urbanen Hipster-Heimstädte in Essens Rüttenscheid ins Nachtleben der Region einzutauchen. Die Möglichkeit, mit einem günstigen Tagesticket und ein paar Bahnstationen von einer Stadt, einer Mikroszene, einer Popgeschichte in die nächste zu fahren, ist außerordentlich. Wir konnten nur einen ersten Blick werfen. Auch Jazz, Swing, Tanzmusik und Schlager, Soul, Fusion, Free-Jazz, die Fahrrad-Mod-Szene, die Rockabilly-Fans und die Steampunk-Anhänger haben ihre eigenen Ruhrgebietsgeschichten zu erzählen. Wir kommen wieder. „See you later, Alligator“.

Abbinder und Playlist

Zum Nachlesen

Ansicht auf den Digitalen Guide "Sound of #urbanana", © Tourismus NRW e.V.

Literatur

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Logo sound of #urbanana, © Tourismus NRw e.V.

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